Die Wahrheit ist nicht, was du denkst 2

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Kleine Einführung in gesellschaftliche Kommunikation

Im letzten Newsletter habe ich erzählt, was Wahrheit wissenschaftlich betrachtet ist und was das mit unserem Alltag zu tun hat. Besonders wichtig ist Wahrheit, weil wir uns ohne sie nicht verstehen würden. Wir könnten ohne sie nicht kommunizieren und hätten keine gemeinsame Wissensgrundlage, die wir für wahr halten. Kleine Abweichungen von Grundannahmen sind nicht tragisch. Sie zeigen uns, wie unterschiedlich Menschen sind und in was für einer vielfältigen Welt wir aufwachsen. Die Möglichkeit sich zu einigen besteht trotzdem. Nur so ist, trotz unterschiedlicher Grundannahmen, ein politisches System auf Grundlage von Kompromissen möglich.

Wie kommen wir nun zu Kompromissen in unserem politischen und gesellschaftlichen System? Und was passiert, wenn unsere gemeinsamen Grundannahmen immer weniger werden?

Medien und Gesellschaft

Gesellschaft und politische Systeme sind sehr komplexe Dinge, die ich hier gar nicht bis ins kleinste Detail erklären möchte. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass eine komplexe Gesellschaft nur durch gesellschaftliche bzw. öffentliche Kommunikation zusammenhalten kann. Diese Funktion übernehmen Medien, klassischer Weise der Journalismus.

Medien schaffen es, in der Öffentlichkeit, also auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, einen Austausch zu ermöglichen. Das Ganze funktioniert, indem sie Themen bereitstellen, zeigen, was daran wichtig ist und Reaktionen darauf ermöglichen, wie in einem Gespräch. Das macht Beziehungen sichtbar und repräsentiert eine gemeinsame Welt.

Wenn sich jedoch mehr und mehr Menschen aus dieser gemeinsamen Welt zurückziehen, indem sie zum Beispiel sogenannten Leitmedien keinen Glauben mehr schenken, zerfällt unsere Gesellschaft in einzelne Teile, Fragmente. Dieser Prozess nennt sich die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“. Und den meisten ist auch der Begriff der „Filterblase“, ein abgeschotteter Informationsraum, nicht mehr unbekannt.

Wo führt das alles hin?

Wenn sich die Informationsräume immer weiter voneinander entfernen und sich irgendwann gar nicht mehr überschneiden, wird es gefährlich. Wie ich im letzten Artikel schrieb, ist das (pragmatische) Kriterium dafür, ob eine Aussage als wahr gilt, dass sich alle darüber einig sind. Und wenn jemand etwas anzweifelt, muss man diese Aussage mit anerkannten Argumenten verteidigen können.

Diejenigen, die sich in ihrer Filterblase vom Rest der Gesellschaft abgrenzen, haben keine Möglichkeit mehr, Informationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Solche abgeschotteten Informationsräume leben oft davon, dass einige wenige Wortführer*innen ihre Meinung als unumstößliche Wahrheiten ausgeben. Und vor allem, diese nicht in einem Gespräch verteidigen können bzw. möchten. Eine solche unumstößliche Wahrheit nennt man auch Dogma.

Reptilien, Farbe und Wiedergeburten?!

Das Gefährliche an einer abgeschotteten Informationsblase ist also, dass die dort kursierenden „Wahrheiten“ gar nicht von außen angezweifelt werden. Innerhalb der Blase „gilt“ also das Kriterium für Wahrheit, dass sich alle darüber einig sind, dass die Aussage stimmt. Auf diese Weise könnten die verrücktesten Aussagen innerhalb einer abgeschotteten Gruppe als wahr angenommen werden. „Reptilien beherrschen die Erde“, „Pflanzen sind eigentlich rot, statt grün“, oder auch „Olaf Scholz ist die Wiedergeburt von Cleopatra.“ Solange es keine Gruppe von Wissenschaftler*innen und anderen Expert*innen auf diesen Gebieten gibt, die diese Aussagen in unseren mehrere Jahrtausende anwachsenden Kanon an Wissen einordnen und Unstimmigkeiten aus verschiedenen Richtungen hinterfragen, kann eigentlich nicht gesagt werden, ob diese Aussagen wahr sind.

Aber was ist nun so schlimm daran? Wir könnten ja sagen: „Habt ein schönes Leben mit eurer abgeschotteten Weltsicht.“, und gut ist. Doch leider führen solche abgeschotteten Gruppen erstens zu gefährlichen Handlungen innerhalb der Gruppe (Leute trinken Bleiche, weil jemand gesagt hat, es hilft gegen Corona), zweitens zu Extremismus und Gewalt gegenüber der „Außenwelt“ (Reichsbürger oder Terroristen, die die gesellschaftliche Ordnung ablehnen) und nicht zuletzt zur Destabilisierung der Gesellschaft an sich, wenn es immer mehr dieser abgeschotteten Fragmente, also Informationsblasen gibt.

Zu guter Letzt – Es sind nicht alle gleich

Die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ ist nur ein Faktor von vielen, der unsere gesellschaftliche Kommunikation bzw. Entwicklung negativ beeinflusst. Deshalb ist es mir sehr wichtig zu erwähnen, dass ich mit diesem und dem vorhergehenden Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Ich hoffe einfach, ich konnte einige Menschen neugierig und vielleicht auch etwas skeptisch machen, ihrem inneren und anderen Kritikern gegenüber. Ich denke, es ist wichtig sich zu fragen, was einem eine „alternative“ Wahrheit oder Sichtweise bringt.

Wenn man sich von gesellschaftlichen Autoritäten – den Medien, der Regierung, der Wissenschaft, der Medizin – betrogen fühlt, darf man nicht vergessen, dass diese gesellschaftlichen Systeme keine geschlossenen Einheiten sind. Es gibt korrupte Politiker. Aber es gibt auch solche, die ihren Job verantwortungsbewusst ausführen und alles in ihrer Macht Mögliche tun, um unser Land gerecht zu führen. Es gibt Journalisten, die es mit ihrem Kodex nicht so genau nehmen. Aber es gibt auch viele, die sich sogar in Gefahr begeben, nur um die Gesellschaft über Missstände aufzuklären. Es gibt Wissenschaftler und Mediziner, die ihre Grundprinzipien vergessen haben. Doch die meisten handeln nach bestem Wissen und Gewissen und haben jahrelange Ausbildungen absolviert, die sie auch lehrten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Wahrheit ist nicht, was du denkst

Wahrheit statt Transparenz - wenn es so einfach wäre.
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Der Medienwissenschaftler und Philosoph Sigfried J. Schmidt sagte einmal in einem Interview „Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie.“

Diese Aussage muss näher erklärt werden. Stellt euch einmal vor, es gäbe keine Wahrheit. Es gäbe keine Information, die sicher wäre, keine, auf die ihr euch verlassen könntet. Wir könnten uns über nichts sinnvoll unterhalten, weil wir gar nicht wüssten, was unser Gegenüber eigentlich meint. Und wir könnten nicht einmal normal durch die Straßen laufen, ohne Angst, dass uns gleich der Himmel auf den Kopf fällt. Verrückt, oder?

Zum Glück liegen die Dinge anders. Und was Wahrheit in diesem Sinne in unserem Alltag und mit unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu tun hat, darum soll es hier gehen.

Wahrheit in der Wissenschaft, Wahrheit im Alltag

Jede Wissenschaft ist dazu da, wahre Aussagen zu machen. Wahrheit ist ein wichtiger Bestandteil jeder Wissenschaft. Was Wahrheit im Grunde ist, beschäftigt jedoch die Philosophie. Und obwohl diese als eine unserer ältesten Wissenschaften gilt, sind sich ihre Vertreter*innen darüber immer noch nicht recht einig. Gottfried Wilhelm Leibniz hat den Unterschied zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten eingeführt. Danach sind Vernunftwahrheiten solche, welche uns notwendiger Weise einleuchten (das Gegenteil kann nicht gedacht werden): „Ein Kreis ist rund“ oder „1+1=2“. Tatsachenwahrheiten brauchen jedoch den Abgleich durch Erfahrung: „Es regnet gerade“ oder „Steine sind hart“.

Im Alltag spielt es weniger eine Rolle, wie Wahrheit in der Wissenschaft definiert wird. Im alltäglichen Handeln geht es nie um „die Wahrheit“, sondern darum, ob wir etwas für wahr halten oder eben nicht. Wahrheit hat im Alltag einen praktischen Wert. Wenn ich frage „Regnet es gerade?“, möchte ich wissen, ob ich mir einen Regenschirm mitnehmen sollte. Wenn ich frage „Wer hat die Bundestagswahl gewonnen?“, erlaubt mir die Antwort, mich in Unterhaltungen darauf zu berufen und sinnvoll über die gegenwärtigen Ereignisse in der Politik zu sprechen.

Wie ist Wahrheit entstanden?

Wahrheit ist also etwas Praktisches. Evolutionär betrachtet haben immer diejenigen überlebt, die sich besser auf die Aussagen ihrer Artgenoss*innen verlassen konnten. Zu wissen, wie das Wetter ist und welche Beeren giftig sind, hat früher über Leben und Tod entschieden. Die Wahrheit garantiert uns, dass Dinge nicht willkürlich gesagt werden. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns auf unsere Umwelt und unsere Mitmenschen zu verlassen. Ohne sie hätten wir uns nicht so weit entwickelt. Das heißt, Wahrheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Entwicklung und unseres Lebens. Dass es heute viel mehr solcher Wahrheiten gibt, macht im Grunde keinen Unterschied, aber es macht es natürlich auch komplizierter und unübersichtlicher.

Was heißt jetzt „Wahrheit gibt es nicht“?

Nun war Leibnitz nicht der Einzige, der etwas Kluges über Wahrheit gesagt hat. Naiv betrachtet, gilt Wahrheit als die Übereinstimmung einer Aussage, mit der Wirklichkeit. Aber was ist die Wirklichkeit? Und wer entscheidet darüber, ob eine Aussage nun wahr ist, also die Übereinstimmung wirklich stimmt? Denn egal welche Betrachtung oder Aussage, sie wird ja immer von einem oder einer einzigen Betrachter*in gemacht. Egal ob es ein religiöses Oberhaupt, ein Patriarch, ein Herrscher, ein Gelehrter oder Tante Erna ist: Was ihre Augen sehen und ihr Gehirn denkt, ist nur jeweils ihre Perspektive. Wer ist der oder die, die alles auf einmal sieht und weiß? Gott?

Für alle, denen eine weltliche Quelle der Wahrheit wichtig ist, gibt es eine andere Lösung. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas hat die sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit beschrieben. Danach ist das Kriterium dafür, ob etwas als wahr gilt, dass sich alle, zumindest unausgesprochen, darüber einig sind. Gerade in den Naturwissenschaften gilt dieser Maßstab spätestens seit der Neuzeit. Forschungsergebnisse müssen für alle experimentell nachprüfbar sein. Und wenn jemand die Wahrheit einer Aussage anzweifelt, muss er oder sie das nachweisen. Denn anders können wir uns auf die Wahrheit einer Aussage nicht einigen. Das passiert ständig. Wissenschaftliche Überzeugungen werden aufgrund von neuen Erkenntnissen angepasst oder überworfen. Wahrheit ist nicht „fest“ oder „ewig“. Wahrheit ist also nicht etwas, das in der Welt existiert und gefunden wird, sondern das Ergebnis einer Einigung. Das heißt, Wahrheit, als die unzweifelhafte Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit, gibt es nicht.

Was hat das mit gesellschaftlichem Zusammenhalt zu tun?

Damit wir uns verstehen, im wortwörtlichen Sinne, aber auch im Sinne von „sich vertragen“, brauchen wir eine Basis an Wahrheiten, über die wir uns einig sind. Wissenschaftler sagen dazu „Common Ground“, was man mit „gemeinsame Grundlage“ übersetzen kann und ein Art Wissensraum meint, den wir teilen. Früher haben fast alle abends Tagesschau gesehen und eine von drei gleichen Zeitungen gelesen. Jeder und jede wusste, was der andere wusste und woher sie es wussten. Heute sind Informationen im Internet so vielfältig und individuell, dass es kaum zwei Menschen gibt, die ihre Informationen von der gleichen Quelle beziehen. Das macht es besonders schwierig, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen. Aber erst dieser „Common Ground“ ermöglicht, dass wir normal miteinander kommunizieren und zusammenleben können.

Was passiert nun, wenn wir immer weniger von diesen gemeinsam geteilten Wahrheiten haben? Logischer Weise wird dann die gemeinsame Basis instabil. Die gesellschaftliche Kommunikation, sich gemeinsam auf Dinge zu einigen, wird schwieriger, da ja nicht einmal die Grundannahmen übereinstimmen. Im Kleinen ist das kein Problem. Anhänger verschiedener Parteien gehen in manchen Dingen von unterschiedlichen Grundannahmen aus, was dazu führt, dass sie andere Lösungen dafür finden, wie wir gut zusammenleben. Im Großen führt das dazu, dass es immer mehr Menschen gibt, die anderen nicht mehr über den Weg trauen und das Konzept von Wahrheit anfangen abzulehnen. Denn es gibt ihnen nicht mehr die erwartete Sicherheit. Und wenn wir uns nicht mehr einig sind, bedroht das unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

 

Im nächsten Newsletter gehe ich darauf ein, wie eine verschwindende „gemeinsame Grundlage“ unsere Politik beeinflusst und warum gesellschaftliche Kommunikation ein unverzichtbarer Teil unserer Gewaltenteilung ist.

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Salon – Kaffeehaus – die Öffentlichkeit

Kaffeehaus

Tradition des Kaffeehauses

Überleg mal kurz. Wo hattest du dein letztes richtig gutes Gespräch über Politik oder gesellschaftliche Themen? Ich rate jetzt mal. Es war höchstwahrscheinlich an einem Tisch, über einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein. Zumindest war für dein leibliches Wohl gesorgt, du hast dich wohl gefühlt und genug Zeit und Raum gehabt, um über Kompliziertes oder sogar Unangenehmes zu sprechen.

Auch wenn es nicht gerade das letzte Gespräch war – du wirst so ein gutes Gespräch schon einmal gehabt haben. „Politik beginnt im Kaffeehaus“, titelte einst eine bekannt Kaffeemarke und Stefan Zweig schrieb über das Wiener Kaffeehaus: „Es stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast […] stundenlang sitzen, diskutieren […] kann.“

Wer gemeinsam isst, der vertraut sich

Über einer Tasse Kaffee, einem abendlichen Getränk, einem Stück Kuchen oder sogar dem Abendbrot, lässt sich so viel entspannter über gesellschaftliche Themen reden. Das gemeinsame Essen und Trinken verbindet. Die besten Gespräche hat man zu Tisch. Wir teilen unser Brot und unseren Wein und dann können wir uns gerne darüber streiten, wieviel Einfluss der Wirtschaft auf die Politik zu viel ist.

Doch die Tradition der Orte, an denen das gesellschaftliche Leben geprägt wurde, ist selbstverständlich älter als die Wiener Kaffeehauskultur. Schon die Agora, der zentrale Versammlungs- und Marktplatz im antiken Griechenland, galt als Ort, der das gesellschaftliche Leben besonders prägte. Und viele Jahrhunderte später war es meist der Marktplatz, auf dem man Nachrichten erfuhr und sich am öffentlichen Leben beteiligte.

Ist ein Kaffeehaus nur was für die „Schlauen“?

In der Hochzeit der Aufklärung entstanden dann in vielen Ländern Europas die literarischen Salons. Hier trafen sich nicht nur berühmte Künstler (um mit Goethe, den Gebrüdern Grimm und Beethoven nur ein paar Schwergewichte zu nennen), es wurde sich neben Literatur und Musik auch über Politisches und Gesellschaftliches ausgetauscht. Die Salonkultur reichte noch bis ins 20. Jahrhundert, aber um die Jahrhundertwende entwickelten sich dann die weit öffentlicheren Kaffeehäuser als Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, allen voran die Kultur des Wiener Kaffeehauses.

„Für das gesellschaftliche und theilweise auch für das geschäftliche Leben von Wien sind die Kaffeehäuser von der höchsten Bedeutung“, so der Illustrierte Wegweiser durch Wien und Umgebungen, erschienen um 1900. Auffällig ist wohl, dass sich an all diesen Orten des gesellschaftlichen Lebens vor allem Intellektuelle trafen, Künstler, Schriftsteller und Musiker. Sind es nur die „Gebildeten“, die sich für die Einmischung und den Austausch über das öffentliche Leben interessieren? Ich glaube nicht. Damals haben die traditionellen Orte des gesellschaftlich, öffentlichen Lebens die gesellschaftliche Realität, aber auch deren Wandel abgebildet.

Vor 200 Jahren hatten Frauen kaum Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzuhaben, oder sich an Gesprächen über gesellschaftlichen Themen zu beteiligen. Mit den Salons änderte sich das ein wenig und ebnete so den Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts nicht unwesentlich den Weg. Und im Kaffeehaus der letzten Jahrhundertwende entwickelten sich liberale Gedanken, die danach mehr und mehr Einfluss auf die Gestaltung der Demokratien von heute nahmen.

Und was hält die Zukunft bereit?

Heute sind die Social-Media-Kanäle die dominanten Räume der Öffentlichkeit. Diese Entwicklung hat uns viel gebracht, doch für mich persönlich überwiegt momentan der negative Einfluss auf die Stimmung der Gesellschaft. Was können wir schaffen, wenn wir eine neue Kultur von Begegnungsort etablieren? Wofür werden die „Orte der Öffentlichkeit“ bekannt sein, wenn man in 100 Jahren auf sie zurückblickt? Wir hoffen, dass wir zu einem neuen Selbst- und Politikverständnis beitragen, das hilft, unsere Demokratie wieder stabiler und authentischer zu machen. Wie ich schon zuvor einmal schrieb, es kann nie allen recht gemacht werden, aber es ist möglich, die Bedürfnisse der meisten Menschen besser umzusetzen. Auf eine neue Kultur des Tischgesprächs – auf die Öffentlichkeit.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter wird es politisch. Es geht um „fake news“ und das Für und Wider des Impfens.

Unsere Motivation für die Öffentlichkeit 2

Wir brauchen mehr kollektive Orte – die Öffentlichkeit

Vor gut 100 Jahren sind alle Menschen jeden Sonntag für zwei Stunden in die Kirche gegangen. Ohne Wenn und Aber. Es gibt gute Gründe, warum Religion nicht mehr so eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft einnimmt und jede:r sich selbst überlegen darf, ob er oder sie religiös sein will. Aber neben der Religion hat die Kirche früher noch etwas anderes befördert, nämlich Gemeindebildung. Unsere Gemeinden sind schon lange immer an den Standort von Kirchen gebunden gewesen. Das ist weggefallen, aber das kollektive Bedürfnis nach gemeindebildenden Orten, nach Orten, die Öffentlichkeit schaffen, ist geblieben.

Was machen jetzt die Menschen, anstelle jeden Sonntag zwei Stunden in die Kirche zu gehen? Manche treffen sich in Sportvereinen, andre pflegen ihren Garten und wieder andere lassen sich vom Fernseher oder aus dem Internet beschallen. Es gibt Ersatz. Manche Orte können das leisten, was die Kirche früher geleistet hat – dass sich ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen und Vorstellungen davon, wie wir gut zusammenleben, an einem Ort zusammenfinden. Meist sind das Sportvereine. Doch solche Orte werden weniger und hinzu kommt, dass es selbst auf so neutralem Gebiet wie dem Sport beginnt eine Rolle zu spielen, wo du politisch herkommst.

Ist Politik anstrengend, lästig, langweilig?

Dank des Internets kann heutzutage jede:r am öffentlichen Diskurs über Politik teilnehmen. Das ist ein riesiger Fortschritt. Viele merken jedoch, dass sich dadurch der Diskurs geändert hat; er ist unübersichtlicher und an manchen Stellen auch unfreundlicher geworden. Andere wollen gar nicht erst an diesem Diskurs teilnehmen, oft weil er so unübersichtlich und unfreundlich ist. Und wieder andere haben Sorge, dass sie etwas Falsches sagen könnten.

Muss das so sein? Muss die Beschäftigung mit Politik anstrengend und die öffentliche Auseinandersetzung verletzend sein? Ich denke nicht. Mit dem Projekt die Öffentlichkeit möchten wir genau diese Baustelle angehen. Wir wollen lokale Orte der Gemeindebildung schaffen, an welchen wir uns über unsere politischen Bedürfnisse austauschen und auch dazulernen können. Wenn wir wieder damit anfangen, uns beim politischen Streit ins Gesicht zu schauen, eskaliert dieser vielleicht nicht so schnell.

Träume kann man noch haben

Wir träumen davon, dass es irgendwann wieder in jeder Gemeinde einen oder gleich viele Ort gibt, an denen sich alle möglichen Menschen treffen können, um sich darum zu kümmern, was sie zusammenbringt – als Nachbar*innen, als Menschen, als politische Wesen. Denn am Ende wollen alle Menschen dasselbe: ein gutes Leben für sich und die Menschen, die ihnen wichtig sind. Und nur, weil Uneinigkeit darüber besteht, wie das zu erreichen ist und unter welchen Bedingungen wir diesen Weg einschlagen, sollten wir uns doch nicht aus dem Weg gehen.

Gemeinsam schaffen alle Menschen so viel mehr. Wir sind Menschen, weil wir uns vergemeinschaften. Da wir in der Lage sind, uns gegenseitig zu helfen und miteinander mehr zu leisten als alleine, konnten wir uns zu den Wesen entwickeln, die wir heute sind. Mensch sein heißt gemeinsam sein. Und es ist eine notwendige Entwicklung, dass nach dem schrittweise Absterben der Innenstädte in den letzten Jahren etwas Neues passiert – die Gemeinde muss neu gedacht werden!

Bleibt dran – im nächsten Newsletter schreibe ich über die Tradition der Begegnungscafés und der Salons.

Unsere Motivation für die Öffentlichkeit 1

Wahlzettel - die Öffentlichkeit

Ein Problem, das wir lösen möchten

Am 25. März 2021 kippte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel in Folge einer Normenkontrollklage. Tausende Bürger:innen müssen jetzt Mietzinsen nachzahlen, von Geld, das sie nicht haben. Ein vermeidbares Chaos und wohl die Folge inkonsequent umgesetzter Wohnungspolitik des Berliner Senats. Der Stadt Brandenburg an der Havel ist in den letzten 10 Jahren ein Schaden von etwa 2,5 Millionen Euro für Strafzinsen entstanden, weil sie Mittel für die Stadtplanung nicht fristgerecht eingesetzt hat. Obwohl die Mehrheit der Bürger:innen von Brandenburg sich zum Beispiel für eine Verkehrsberuhigung der Altstadt einsetzt, werden schon beschlossene Maßnahmen nicht umgesetzt. Bezieht man die Öffentlichkeit von Beginn an in kritische politische Entscheidungsprozesse ein, entstehen seltener unbeliebte Entscheidungen.

Diese Beispiele sind nur zwei von unzähligen Fällen, in welchen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik grob an den Interessen der Bürger:innen, vorbei regiert haben. Die Gründe für Politikversagen sind das Lieblingsthema etablierter Talkrunden und privater Tischgespräche. Abgesehen von diesen konkreten Beispielen, ist die Liste unpopulärer Entscheidungen nicht enden wollend: von inkonsequenter und unregulierter Migrationspolitik bis hin zum verleugnenden Umgang mit dem Klimawandel … wenn ich in meine Suchmaschine „Politik“ eintippe, ist die erste Autovervollständigung „Politikversagen“.

So ist das nun mal – so war das schon immer

Es gibt Menschen, die meinen, so sei Politik nun einmal. Das lässt sich nicht lösen. Es wird immer Menschen geben, die unzufrieden sind. Und polarisierende Entscheidungen gab es schon immer. Ja, das stimmt. Es ist nicht möglich, es allen recht zu machen. Aber es gibt definitiv die Möglichkeit, Politik so zu gestalten, dass nicht die überwiegende Zahl der Menschen mit Zukunftsängsten am Existenzminimum lebt. Und dass etwas „schon immer so“ gemacht wurde, ist kein Argument dafür, es weiterhin so zu machen, sondern höchstens ein faules Beispiel für einen sogenannten Sein-Sollen-Fehlschluss.*

Ein wesentlicher Faktor, warum sich in der „professionellen“ Politik schon so lange nichts mehr geändert hat, ist, dass zu wenige Bürger:innen das „Handwerkszeug“ haben, ihre Vertreter:innen zur Verantwortung zu ziehen. Stellt euch vor, schlecht gemachte Politik hätte tatsächliche Konsequenzen. Alle bekämen es mit, wenn jemand seine Wahlversprechen nicht einhält. Und dann würde er oder sie nicht wiedergewählt oder sogar frühzeitig durch ein Misstrauensvotum seines bzw. ihres Amtes enthoben. Stellt euch vor, mehr und mehr Menschen würden sich der Mittel der Einflussnahme auf Politik bedienen. Und zwar nicht nur, indem sie alle paar Jahre ein Kreuzchen machen. Durch die rege Beteiligung an Bürger:innenbegehren, Planfeststellungsverfahren oder kommunalen Interessenvertretungen ist schon viel Gutes entstanden.

Ihr ewigen Nörgler:innen

Ich wette, manche denken jetzt: „Das ist doch nichts Neues“, „Die Leute wollen sich nicht beteiligen“ und „Das funktioniert doch eh nicht!“ Darauf antworte ich: „Ja, stimmt“, „Nein, da bin ich anderer Meinung“ und „Woher wollen wir das wissen, bevor wir‘s ausprobiert haben?“           
Menschen beteiligen sich nicht, weil die Möglichkeiten politisch mitzumachen in Deutschland bürokratisch und unübersichtlich sind. Darüber hinaus wird die Beteiligung an Politik meist nicht gerade mit Spaß in Verbindung gebracht. Politik ist anstrengend, kompliziert, langweilig oder macht schlechte Laune. So die landläufige Meinung in der Öffentlichkeit. Aber muss das so sein?

Was wäre wenn …

Was wäre zum Beispiel, wenn es um die Ecke ein nettes Café gibt, in dem der Kuchen super schmeckt und man sich unkompliziert und kostenlos zu politischer Beteiligung beraten lassen kann? Kein kahles Politbüro oder eine farblose Behörde, sondern ein gemütliches „Wohnzimmer“. Es läuft Musik, ihr könnt euch mit einem Tee wärmen oder einem Bier zuprosten und daneben etwas über das Grundgesetz oder Beteiligungsverfahren lernen. Unser Projekt, die Öffentlichkeit, ist ein Ort, der das alles möglich macht, und noch viel mehr.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter gibt es Teil 2 unserer Motivation für die Öffentlichkeit, mit Schwerpunkt auf den besagten Ort, das Demokratiecafé.

* Mini-Exkurs Philosophie: Ein Sein-Sollen-Fehlschluss (siehe auch Humes Gesetz) liegt vor, wenn jemand aus einer reinen Feststellung, z. B. „Eheschließungen fanden immer zwischen einem Mann und einer Frau statt.“, einen Soll-Satz ableitet, z. B. „Eheschließungen dürfen nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden.“

Der Weg in die Öffentlichkeit

Menschenmenge

Der Weg in die Öffentlichkeit

Ein kleiner Einblick in die Gründung der Öffentlichkeit

Ich klicke mich durch die verschiedenen Bewertungsfelder, nachdem wir die Rückmeldung zum Businessplan-Wettbewerb Berlin-Brandenburg bekommen haben, und lese: „Es ist einer der besten Businesspläne, die mir nicht nur im BPW, sondern in meiner gesamten langen beruflichen Laufbahn untergekommen ist.“ Mein Herz klopft, ich öffne die zweite Bewertung und lese, „Hätte ich als Juror nicht die Aufgabe den gesamten Businessplan durchzuarbeiten, hätte ich nach der Zusammenfassung nicht weiter gelesen.“

Gründen ist nicht leicht. Das ist ein ,no-brainer‘, wie es im Jargon heißt – eine evidente Sache, etwas, über das man nicht nachzudenken braucht. Klar, gründen ist nicht leicht, aber ich hätte zu Beginn nie gedacht, wie verrückt diese Reise sein kann. Ich hätte nie gedacht, in was ich mich begebe, bevor ich nur eine Unterschrift gesetzt, den ersten Euro investiert habe.

die Öffentlichkeit soll mehr sein

Mein Mitgründer Aaron und ich, Charlotte, wollen ein Demokratiecafé eröffnen; ein richtiges Café, in dem ihr Kaffee, Kuchen und am Abend mal eine Weinschorle bekommt, in dem es aber auch um Politik geht. Wir wollen einen sympathischen Ort schaffen, an dem sich Menschen gerne mit Politik beschäftigen. An dem es ihnen leicht gemacht wird, sich zu informieren und vielleicht sogar in Aktion zu treten.

Dabei wollen wir nicht ,nur‘ ein Café mit Programm sein und auch kein Stadtteilcafé, die Öffentlichkeit soll mehr sein. Aaron und ich studieren Philosophie und forschen zu Demokratie und Gesellschaft. Uns ist wichtig, dass das, was wir tun, wissenschaftlich fundiert ist. Deshalb arbeiten wir auch mit einem Forschungsprogramm zusammen, das sich explizit mit demokratischen Orten und sogenannten demokratischen Mikropraktiken beschäftigt. Das Demokratiecafé die Öffentlichkeit wird deshalb ein Modellprojekt. Wir versuchen dort unser Wissen aus der Forschung anzuwenden. Wir wollen beobachten, welche Wirkung wir mit dem, was im Café passiert, erzielen und unser Konzept dann weiterentwickeln.

Gemeinnützigkeit braucht Geld

Wie ich schon angedeutet habe, ist es unser Ziel, dass sich mehr und mehr Menschen gerne mit Politik beschäftigen. Das ist der Zweck des Cafés, und deshalb wird jeder erwirtschaftete Cent diesem Zweck zukommen. Letztlich ist es aber immer noch ein Café, das Geld einnehmen muss. Damit das Projekt langfristig funktioniert, vor allem aber zu Beginn, braucht es Investitionen. Und hier treffen zwei unterschiedliche Welten aufeinander – die Welt der Wirtschaft und die Welt des sozial-gesellschaftlichen Engagements und Handelns.

Es gibt immer mehr Institutionen und Unternehmen, die das wirtschaftliche Handeln und das Handeln für den guten Zweck miteinander vereinen. Die Gründer*innenszene besteht aber immernoch aus Vielen, die es komisch finden, wenn ein wirtschaftliches Unternehmen keinen klassischen Profit machen möchte. Wenn der Mehrwert eines Unternehmens zum Beispiel Bildung, Gemeinschaft, Teilhabe usw. ist, dann gehört diese Unternehmung für einige immer noch in einen anderen Sektor als Unternehmen, die Geld verdienen.

Innovation oder Risiko?

Ich denke, das ist ein Grund, warum wir mit unserem Projekt in der Gründer*innenszene so extrem konträre Reaktionen hervorrufen. Da sind auf der einen Seite Menschen, die persönlich von der Idee angetan sind, die unsere Werte teilen und die Art und Weise, wie wir uns gesellschaftlich beteiligen wollen, innovativ finden. Und da sind auf der anderen Seite Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass unser Geschäftsmodell Erfolg bringt, so wie sie Erfolg verstehen.

Der Stand unserer Gründung ist, dass wir nach wie vor an unserem Businessplan feilen. Wir werden von unserer Uni durch Beratung und Vernetzung sehr gut unterstützt. Und wir haben in allen wichtigen Bereichen der Unternehmensgründung ,Eisen im Feuer‘. Die Türen des Demokratiecafés sollen in genau einem Jahr, im April 2022 öffnen. Bis dahin ist noch viel zu tun und vor allem viel zu erzählen.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter geht es um unsere Motivation für die Öffentlichkeit.