Die Wahrheit ist nicht, was du denkst

Wahrheit statt Transparenz - wenn es so einfach wäre.
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Der Medienwissenschaftler und Philosoph Sigfried J. Schmidt sagte einmal in einem Interview „Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie.“

Diese Aussage muss näher erklärt werden. Stellt euch einmal vor, es gäbe keine Wahrheit. Es gäbe keine Information, die sicher wäre, keine, auf die ihr euch verlassen könntet. Wir könnten uns über nichts sinnvoll unterhalten, weil wir gar nicht wüssten, was unser Gegenüber eigentlich meint. Und wir könnten nicht einmal normal durch die Straßen laufen, ohne Angst, dass uns gleich der Himmel auf den Kopf fällt. Verrückt, oder?

Zum Glück liegen die Dinge anders. Und was Wahrheit in diesem Sinne in unserem Alltag und mit unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu tun hat, darum soll es hier gehen.

Wahrheit in der Wissenschaft, Wahrheit im Alltag

Jede Wissenschaft ist dazu da, wahre Aussagen zu machen. Wahrheit ist ein wichtiger Bestandteil jeder Wissenschaft. Was Wahrheit im Grunde ist, beschäftigt jedoch die Philosophie. Und obwohl diese als eine unserer ältesten Wissenschaften gilt, sind sich ihre Vertreter*innen darüber immer noch nicht recht einig. Gottfried Wilhelm Leibniz hat den Unterschied zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten eingeführt. Danach sind Vernunftwahrheiten solche, welche uns notwendiger Weise einleuchten (das Gegenteil kann nicht gedacht werden): „Ein Kreis ist rund“ oder „1+1=2“. Tatsachenwahrheiten brauchen jedoch den Abgleich durch Erfahrung: „Es regnet gerade“ oder „Steine sind hart“.

Im Alltag spielt es weniger eine Rolle, wie Wahrheit in der Wissenschaft definiert wird. Im alltäglichen Handeln geht es nie um „die Wahrheit“, sondern darum, ob wir etwas für wahr halten oder eben nicht. Wahrheit hat im Alltag einen praktischen Wert. Wenn ich frage „Regnet es gerade?“, möchte ich wissen, ob ich mir einen Regenschirm mitnehmen sollte. Wenn ich frage „Wer hat die Bundestagswahl gewonnen?“, erlaubt mir die Antwort, mich in Unterhaltungen darauf zu berufen und sinnvoll über die gegenwärtigen Ereignisse in der Politik zu sprechen.

Wie ist Wahrheit entstanden?

Wahrheit ist also etwas Praktisches. Evolutionär betrachtet haben immer diejenigen überlebt, die sich besser auf die Aussagen ihrer Artgenoss*innen verlassen konnten. Zu wissen, wie das Wetter ist und welche Beeren giftig sind, hat früher über Leben und Tod entschieden. Die Wahrheit garantiert uns, dass Dinge nicht willkürlich gesagt werden. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns auf unsere Umwelt und unsere Mitmenschen zu verlassen. Ohne sie hätten wir uns nicht so weit entwickelt. Das heißt, Wahrheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Entwicklung und unseres Lebens. Dass es heute viel mehr solcher Wahrheiten gibt, macht im Grunde keinen Unterschied, aber es macht es natürlich auch komplizierter und unübersichtlicher.

Was heißt jetzt „Wahrheit gibt es nicht“?

Nun war Leibnitz nicht der Einzige, der etwas Kluges über Wahrheit gesagt hat. Naiv betrachtet, gilt Wahrheit als die Übereinstimmung einer Aussage, mit der Wirklichkeit. Aber was ist die Wirklichkeit? Und wer entscheidet darüber, ob eine Aussage nun wahr ist, also die Übereinstimmung wirklich stimmt? Denn egal welche Betrachtung oder Aussage, sie wird ja immer von einem oder einer einzigen Betrachter*in gemacht. Egal ob es ein religiöses Oberhaupt, ein Patriarch, ein Herrscher, ein Gelehrter oder Tante Erna ist: Was ihre Augen sehen und ihr Gehirn denkt, ist nur jeweils ihre Perspektive. Wer ist der oder die, die alles auf einmal sieht und weiß? Gott?

Für alle, denen eine weltliche Quelle der Wahrheit wichtig ist, gibt es eine andere Lösung. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas hat die sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit beschrieben. Danach ist das Kriterium dafür, ob etwas als wahr gilt, dass sich alle, zumindest unausgesprochen, darüber einig sind. Gerade in den Naturwissenschaften gilt dieser Maßstab spätestens seit der Neuzeit. Forschungsergebnisse müssen für alle experimentell nachprüfbar sein. Und wenn jemand die Wahrheit einer Aussage anzweifelt, muss er oder sie das nachweisen. Denn anders können wir uns auf die Wahrheit einer Aussage nicht einigen. Das passiert ständig. Wissenschaftliche Überzeugungen werden aufgrund von neuen Erkenntnissen angepasst oder überworfen. Wahrheit ist nicht „fest“ oder „ewig“. Wahrheit ist also nicht etwas, das in der Welt existiert und gefunden wird, sondern das Ergebnis einer Einigung. Das heißt, Wahrheit, als die unzweifelhafte Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit, gibt es nicht.

Was hat das mit gesellschaftlichem Zusammenhalt zu tun?

Damit wir uns verstehen, im wortwörtlichen Sinne, aber auch im Sinne von „sich vertragen“, brauchen wir eine Basis an Wahrheiten, über die wir uns einig sind. Wissenschaftler sagen dazu „Common Ground“, was man mit „gemeinsame Grundlage“ übersetzen kann und ein Art Wissensraum meint, den wir teilen. Früher haben fast alle abends Tagesschau gesehen und eine von drei gleichen Zeitungen gelesen. Jeder und jede wusste, was der andere wusste und woher sie es wussten. Heute sind Informationen im Internet so vielfältig und individuell, dass es kaum zwei Menschen gibt, die ihre Informationen von der gleichen Quelle beziehen. Das macht es besonders schwierig, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen. Aber erst dieser „Common Ground“ ermöglicht, dass wir normal miteinander kommunizieren und zusammenleben können.

Was passiert nun, wenn wir immer weniger von diesen gemeinsam geteilten Wahrheiten haben? Logischer Weise wird dann die gemeinsame Basis instabil. Die gesellschaftliche Kommunikation, sich gemeinsam auf Dinge zu einigen, wird schwieriger, da ja nicht einmal die Grundannahmen übereinstimmen. Im Kleinen ist das kein Problem. Anhänger verschiedener Parteien gehen in manchen Dingen von unterschiedlichen Grundannahmen aus, was dazu führt, dass sie andere Lösungen dafür finden, wie wir gut zusammenleben. Im Großen führt das dazu, dass es immer mehr Menschen gibt, die anderen nicht mehr über den Weg trauen und das Konzept von Wahrheit anfangen abzulehnen. Denn es gibt ihnen nicht mehr die erwartete Sicherheit. Und wenn wir uns nicht mehr einig sind, bedroht das unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

 

Im nächsten Newsletter gehe ich darauf ein, wie eine verschwindende „gemeinsame Grundlage“ unsere Politik beeinflusst und warum gesellschaftliche Kommunikation ein unverzichtbarer Teil unserer Gewaltenteilung ist.

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Keine Kohle, keinen Platz in der Politik?

Fünf Euro Kohle

Keine Kohle, keinen Platz in der Politik?

Der Anspruch einer Demokratie ist, dass jede:r die Möglichkeit hat, an ihr teilzuhaben. Das heißt auch: egal ob mit oder Kohle. Im Grunde können sich Interessenvertretungen frei ausbilden und du kannst dich diesen entsprechend anschließen. Entweder, indem du sie als offizielle Partei wählst, oder du dich zum Beispiel in einem Verein oder einer Gewerkschaft engagierst. Die Möglichkeiten sind vielfältig und nahezu unendlich. Heutzutage werden sie immer zahlreicher und dezentraler, während alte Größen wie die Kirchen an Macht einbüßen.

„Lebensumstände definieren Beteiligung in der Demokratie“

Viele finden das gut. Frei nach dem typischen Einkaufscharakter des Liberalismus, von dem ich zuletzt sprach. Es gibt aber Personengruppen, die an keiner dieser Möglichkeiten teilhaben. Eine Demokratie braucht aber die Vielfalt von Perspektiven. Schließlich geht es hier nicht mehr um die eine herrschaftliche Perspektive der Monarch:in, sondern darum, dass die Leute sich selbst repräsentieren.

Dafür gibt es vielfältige Gründe. Neben von persönlichen Krisen geplagten Lebensumständen ist es vor allem die soziale Lage Einzelne:r, die bestimmend ist für ihr politisches Engagement. Gerade viele Frauen betrifft das. Überproportional vertreten sind vor allem diejenigen, die in geordneten Verhältnissen leben und eher der Mittelschicht und höher zuzuordnen sind.

„Finanzielle Mittel helfen“

Wie kann man dieses Problem lösen? Natürlich könnte man motivierende Programme vorschlagen und Vereine unterstützen, die sich in diese Richtung starkmachen. Leider wird hier aber nicht einer der Hauptgründe aufgegriffen. Es geht um die Kohle.

Wer kein Geld hat, der kann sich in dieser Gesellschaft kaum engagieren. Wer Vorteile durch die Gesellschaft hat, wird sich eher engagieren.

Eine Lösung dafür wäre das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen: ein Einkommen, welches der Staat an theoretisch alle Bürger:innen zahlt. Damit soll grundsätzlich die Möglichkeit auf ein gutes, wenn auch einfaches Leben gesichert sein. Das könnte individuelle Spielräume im Engagement ermöglichen.

„Mehr Platz zum Leben“

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen könnte Existenzängste beseitigen und den bzw. Die Einzelne:n freier machen für Teilhabe, aber auch für Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung. Schließlich kannst du jetzt Geld zurücklegen oder ein Seminar besuchen oder in dein Hobby investieren. Dadurch würde auch die Wirtschaft angekurbelt. Vor allem könnte diese finanzielle Sicherheit bedeuten, dass man sich stärker in die Gesellschaft integriert, da man mehr Möglichkeiten hat. Jetzt kannst du es dir schlichtweg leisten. Dies soll nicht schmälern, was andere trotz prekärer Grundlage leisten. Aber: Eine Demokratie mit gerechter Interessenvertretung und einem repräsentativen Parlament würde stabiler und flächendeckend möglich werden, wenn alle dieselbe Chance haben, sich für eigene Interessen einzusetzen. Was nützen dir bürgerliche Rechte, wenn du sie nicht wahrnehmen kannst?!  

Volksabstimmung = eindeutiger Volkswille? Direkte Demokratie 3

Reichstag

Eines der Hauptargumente für eine Wende zur direkten Demokratie ist, dass dadurch der Volkswille besser ausgedrückt wird. Jede wahlberechtigte Person könnte so ganz genau dafür ihre Stimme abgeben, was ihr als unterstützungswert gilt. Anstatt darauf zu hoffen, dass die Stellvertreter:innen richtige Entscheidung treffen, trifft man sie selbst.

„Wählen ist wie Einkaufen.“

Das Gremium der Stellvertreter:innen ist das Parlament. Dort kommen sie ihrer Pflicht nach: den Wähler:innenwillen ausdrücken. Dafür müssen sie mit bestimmten Positionen werben, so wie Marken für ihre Produkte werben. Heutzutage geht es beim Einkaufen, wie auch bei der Politik, um Emotionen.

Eine direkte Demokratie könnte Abhilfe schaffen. Nicht mehr muss das bessere Wahlkampfteam gewinnen, noch muss man sich Sorgen machen, dass die beworbenen Inhalte keine Umsetzung finden.

Im letzten Monat habe ich Argumente für und gegen die politische Aktivierung der Bürger:innen gegeben, die aus einer Wende zur direkten Demokratie folgt. Heute soll es darum gehen, ob die direkte Demokratie den Volkswillen wirklich besser repräsentieren kann.  

„Der Volkswille wird direkt erhoben.“

Ein ganz klares Argument dafür ist, dass man Entscheidungen selbst treffen kann. Der Volkswille wird direkt erhoben. Es gibt keine Vermittlungsposition. Das fördert würde die Transparenz fördern, da nicht irgendjemand Gesetze nur nach seinen Interessen im Hinterzimmer aushandelt. Rein ideologische Entscheidungen und der Einfluss von Drittinteressen hätten es schwerer. Die Informationen zu Abstimmungen sollten ein unabhängiges Gremium bestimmen und einfach und offen abrufbar sein. Eine solche Regelung unterstützt nicht nur die Transparenz, sondern auch die Akzeptanz politischer Entscheidungen. Hierbei darf man nur nicht die Fallen der Schweiz mitnehmen.

„Negativ für die direkte, negativ für die repräsentative Demokratie?“

Es bleiben Probleme. Leute könnten das Informationsangebot nicht annehmen oder Dritte könnten weiterhin mit hohem finanziellen Aufwand Einfluss gewinnen. Und all das könnte noch weit negativere Folgen haben: Durch schnelle Abstimmungen zu antidemokratischen Gesetzen könnten Grundrechte, Bevölkerungsgruppen und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Gefahr gebracht werden.

Wieso das eine Gefahr ausschließlich für die direkte Demokratie sei, bleibt ungewiss. Bereits jetzt könnten über legale Wege Parteien an die Macht kommen, von denen eine ähnliche Gefahr ausgeht. Hier kommt es letztlich darauf an, wie wehrfähig die Verfassung und die Zivilbevölkerung ist, wenn Mitbürger:innen Schaden droht.

„Was die direkte Demokratie bringt, zeigt nur ein Experiment.“

Es ist eindeutig: Der Volkswille wird genauer repräsentiert. In wie weit das aber eine bessere Politik bedeutet, lässt sich in der Theorie nicht sagen. Alle Gegenargumente treffen auch auf die repräsentative Demokratie zu. Letztlich muss ein Experiment zeigen, ob die direkte Demokratie oder eine starke Hybridform aus direkter und repräsentativer Demokratie besser ist.

Gemeinschaft durch Partizipation? Direkte Demokratie 2

Die Mehrheit für mehr Partizipation

70 Prozent aller Bürger:innen sind davon überzeugt, dass die repräsentative Demokratie durch weitere Formen der Beteiligung ergänzt werden soll. So lautet das Ergebnis einer Umfrage, die nach dem ersten Bürgerrat zum Thema Demokratie (mit diesen erarbeiteten Empfehlungen) im September 2019 durchgeführt wurde. Auch 2021 sieht es nicht besser aus: Nur vier Prozent geben in dieser Studie von Anfang Juni an, dass sie sehr zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung sind. Die Mehrheit ist unzufrieden. Die Mehrheit will mehr Partizipation. Sollten dies nicht Zeichen des Wechsels sein?

Das bedeutet nicht, dass ein Regierungswechsel alles ändern würde. Die politische Struktur selbst könnte das Problem sein. Deswegen ist es relevant über neue Formen der Partizipation zu sprechen.

Letzten Monat haben wir das Konzept der direkten Demokratie vorgestellt. Diesmal werden Gründe Für und Wider vorgestellt, so wie sie vom Bürgerrat Demokratie ausgearbeitet wurden.

Allgemein gibt es zwei Hauptargumente für Mechanismen der direkten Demokratie: 1. Aktivierung der Bürger:innen als politische Akteur:innen und 2. eine bessere Repräsentation des politischen Handelns. Die Aktivierung der Bürger:innen für politische Prozesse bringt einige Erwartungen mit. Die Diskussion, die vor einer Volksabstimmung stattfindet, soll nicht nur eine starke Einbindung der Einzelnen in die politischen Entscheidungen garantieren, sondern auch gemeinschaftsbildend wirken. Dass trotzdem Fronten verbleiben oder einige Abstimmungen kontroverser sind als andere, bleibt dabei natürlich bestehen. Wenn das Infomaterial zu den Abstimmungen jedoch zuvor von Bürger:innenräten erarbeitet wurde und der Einfluss Dritter (zum Beispiel irgendwelcher Unternehmen) begrenzt bleibt, dann kann der Diskurs unter möglichst gleichen Voraussetzungen versöhnlich bleiben. Die Volksentscheide, ob sie nun von oben oder von unten kommen, sind dann ein Projekt der Bürger:innen, da sie selbst die Struktur tragen, anstatt das einzelne Interessensgruppen oder politische Parteien diese beeinflussen können.

Es gibt Gegenargumente:

1. Gerade manche Themen könnten einen hohen Verständnisaufwand fordern

2. Eine bürger:innennahe Struktur wird viel kosten

3. Der Diskurs könnte die Gesellschaft in ein Pro- und ein Kontralager spalten

4. Die Abstimmungen könnten zu Ermüdung führen.

Nur mit Bildung und Information funktioniert Direkte Demokratie

Diese Sorgen sind wichtig, können aber auch entkräftet werden. Zum Beispiel wird die gesellschaftliche Spaltung nicht ganz so gravierend sein, wenn alle dasselbe Wissen über die Gründe beider Positionen haben (durch gemeinsames Infomaterial) und man sich im Gespräch respektvoll begegnet. Ebenso müssen alle Menschen mitmachen können. Das muss die Infrastruktur leisten können. Nur die Kosten werden hoch bleiben. Wie viel sind uns ein gesellschaftlicher Frieden und eine starke Demokratie wert? Wenn man Millionenbeträge in die Entwicklung neuartiger Waffensysteme investieren kann, dann sollte der Aufbau und Erhalt einer solchen Infrastruktur ebenso möglich sein.

Natürlich verbleiben Probleme. Vielleicht muss man in einer sich wandelnden Welt einfach mal versuchen neue Formen der Problemlösung anzugehen. Ich weiß nicht, was sich der erste Mensch gedacht hat, der sich ein Häuschen baute, der erste, der Theater spielte, der erste, der Feuer machte. Aber vielleicht war es ein ähnlicher Antrieb.

Nächsten Monat geht es darum, wie direkte Demokratie eine bessere Repräsentation der Bürger:innen schafft. Dafür kläre ich zuerst, wie das politische System Deutschlands derzeit repräsentiert. Bis dann!

Unsere Motivation für die Öffentlichkeit 1

Wahlzettel - die Öffentlichkeit

Ein Problem, das wir lösen möchten

Am 25. März 2021 kippte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel in Folge einer Normenkontrollklage. Tausende Bürger:innen müssen jetzt Mietzinsen nachzahlen, von Geld, das sie nicht haben. Ein vermeidbares Chaos und wohl die Folge inkonsequent umgesetzter Wohnungspolitik des Berliner Senats. Der Stadt Brandenburg an der Havel ist in den letzten 10 Jahren ein Schaden von etwa 2,5 Millionen Euro für Strafzinsen entstanden, weil sie Mittel für die Stadtplanung nicht fristgerecht eingesetzt hat. Obwohl die Mehrheit der Bürger:innen von Brandenburg sich zum Beispiel für eine Verkehrsberuhigung der Altstadt einsetzt, werden schon beschlossene Maßnahmen nicht umgesetzt. Bezieht man die Öffentlichkeit von Beginn an in kritische politische Entscheidungsprozesse ein, entstehen seltener unbeliebte Entscheidungen.

Diese Beispiele sind nur zwei von unzähligen Fällen, in welchen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik grob an den Interessen der Bürger:innen, vorbei regiert haben. Die Gründe für Politikversagen sind das Lieblingsthema etablierter Talkrunden und privater Tischgespräche. Abgesehen von diesen konkreten Beispielen, ist die Liste unpopulärer Entscheidungen nicht enden wollend: von inkonsequenter und unregulierter Migrationspolitik bis hin zum verleugnenden Umgang mit dem Klimawandel … wenn ich in meine Suchmaschine „Politik“ eintippe, ist die erste Autovervollständigung „Politikversagen“.

So ist das nun mal – so war das schon immer

Es gibt Menschen, die meinen, so sei Politik nun einmal. Das lässt sich nicht lösen. Es wird immer Menschen geben, die unzufrieden sind. Und polarisierende Entscheidungen gab es schon immer. Ja, das stimmt. Es ist nicht möglich, es allen recht zu machen. Aber es gibt definitiv die Möglichkeit, Politik so zu gestalten, dass nicht die überwiegende Zahl der Menschen mit Zukunftsängsten am Existenzminimum lebt. Und dass etwas „schon immer so“ gemacht wurde, ist kein Argument dafür, es weiterhin so zu machen, sondern höchstens ein faules Beispiel für einen sogenannten Sein-Sollen-Fehlschluss.*

Ein wesentlicher Faktor, warum sich in der „professionellen“ Politik schon so lange nichts mehr geändert hat, ist, dass zu wenige Bürger:innen das „Handwerkszeug“ haben, ihre Vertreter:innen zur Verantwortung zu ziehen. Stellt euch vor, schlecht gemachte Politik hätte tatsächliche Konsequenzen. Alle bekämen es mit, wenn jemand seine Wahlversprechen nicht einhält. Und dann würde er oder sie nicht wiedergewählt oder sogar frühzeitig durch ein Misstrauensvotum seines bzw. ihres Amtes enthoben. Stellt euch vor, mehr und mehr Menschen würden sich der Mittel der Einflussnahme auf Politik bedienen. Und zwar nicht nur, indem sie alle paar Jahre ein Kreuzchen machen. Durch die rege Beteiligung an Bürger:innenbegehren, Planfeststellungsverfahren oder kommunalen Interessenvertretungen ist schon viel Gutes entstanden.

Ihr ewigen Nörgler:innen

Ich wette, manche denken jetzt: „Das ist doch nichts Neues“, „Die Leute wollen sich nicht beteiligen“ und „Das funktioniert doch eh nicht!“ Darauf antworte ich: „Ja, stimmt“, „Nein, da bin ich anderer Meinung“ und „Woher wollen wir das wissen, bevor wir‘s ausprobiert haben?“           
Menschen beteiligen sich nicht, weil die Möglichkeiten politisch mitzumachen in Deutschland bürokratisch und unübersichtlich sind. Darüber hinaus wird die Beteiligung an Politik meist nicht gerade mit Spaß in Verbindung gebracht. Politik ist anstrengend, kompliziert, langweilig oder macht schlechte Laune. So die landläufige Meinung in der Öffentlichkeit. Aber muss das so sein?

Was wäre wenn …

Was wäre zum Beispiel, wenn es um die Ecke ein nettes Café gibt, in dem der Kuchen super schmeckt und man sich unkompliziert und kostenlos zu politischer Beteiligung beraten lassen kann? Kein kahles Politbüro oder eine farblose Behörde, sondern ein gemütliches „Wohnzimmer“. Es läuft Musik, ihr könnt euch mit einem Tee wärmen oder einem Bier zuprosten und daneben etwas über das Grundgesetz oder Beteiligungsverfahren lernen. Unser Projekt, die Öffentlichkeit, ist ein Ort, der das alles möglich macht, und noch viel mehr.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter gibt es Teil 2 unserer Motivation für die Öffentlichkeit, mit Schwerpunkt auf den besagten Ort, das Demokratiecafé.

* Mini-Exkurs Philosophie: Ein Sein-Sollen-Fehlschluss (siehe auch Humes Gesetz) liegt vor, wenn jemand aus einer reinen Feststellung, z. B. „Eheschließungen fanden immer zwischen einem Mann und einer Frau statt.“, einen Soll-Satz ableitet, z. B. „Eheschließungen dürfen nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden.“

Ein Modell der Zukunft? Direkte Demokratie 1

Wählen an der Urne

Von der Basis in die Gesetzgebung

Die Demokratie in Deutschland kennt eine Bürger:innenpflicht: Wählen. Wählen ist wie ein Gang in den Supermarkt. Rein theoretisch kauft man sich, was man will. Praktisch kann Werbung ausschlaggebender sein, ganz so wie im Supermarkt. Die Macht der Bürger:innen liegt also in der Bestätigung oder dem Wechsel der obersten Verwalter:innen im Lande. Der Spielraum als Nichtpolitiker:in ist sehr gering. Wenn einem das Angebot nicht schmeckt, gibt es keine Alternative.
Eine andere Gruppe von Demokratieformen ist offener. Häufig geht sie Hand in Hand mit der repräsentativen (oder auch indirekten) Demokratie: die direkte Demokratie.

Sie umschließt all diejenigen demokratischen Praktiken, bei denen nicht das Parlament, sondern die Bürger:innen selber über eine Regelung entscheiden. Mal passiert das von oben, von der Regierung oder auch von unten. Dafür braucht es meist eine Bürger:inneninitative. Solche Abstimmungen kennen wir auf der Länderebene. Bekannt ist der Fall in Bayern über das Nichtraucherschutzgesetz. In der deutschen Öffentlichkeit gilt die Schweiz als Musterland für direkte Demokratie. Wir schauen jetzt genauer hin.

Direkte Demokratie von Anfang an

Im politischen System der Schweiz vereinen sich parlamentarische und direktdemokratische Mechanismen. Das liegt an der Geschichte des Landes. Die Bauern organisierten sich schon früh in Genossenschaften (die Älteste gibt es seit 900 Jahren!). Das Wahlprinzip bei Entscheidungen ist traditionell eine Person eine Stimme (bzw. lange Zeit ein Mann, eine Stimme). Als sich dann die Kantone als Bünde der Genossenschaften herausbildeten, wollte man das Erfolgsrezept des Zusammenlebens nicht missen. Dass es die direkte Demokratie auf der Bundesebene gibt, erscheint notwendig.

Es gibt nur ein Problem. Die Wahlbeteiligung der Schweiz sinkt seit Jahrzehnten, sowohl bei den Volksabstimmungen, wie auch bei den Wahlen. Angegebene Gründe sind hier wenig Vertrauen ins System, Faulheit, Unwissenheit und zu wenig Macht in den Bürger:innenhänden.

Direkte Demokratie ist kein Allheilmittel

Die Hoffnungen deutscher Vertreter:innen von einer stärker basisdemokratischen Ordnung sind hier nicht gespiegelt. Anstatt einer engagierten Gesamtgesellschaft zeigt sich ein Bild von erstarkender Politikverdrossenheit. Dies liege auch daran, dass aufgrund des besonderen Systems die regierenden Parteien bereits vor der Wahl feststehen.

Eine direkte Demokratie kann also an den gleichen Problemen kränkeln wie andere Formen der Demokratie. Damit Menschen motiviert sind zu partizipieren, braucht es einige universale Voraussetzungen. Die Bürger:innen müssen ihre eigene Wichtigkeit fürs System spüren. Sie müssen den Unterschied machen können, wie ein Land geführt wird. Gleichzeitig braucht es genug Bildungsvoraussetzungen und eine Struktur, die die Partizipation so einfach wie möglich macht. Es wird immer Verdrossene geben, aber auch um deren Motivation sollte man kämpfen. Schließlich ist genau das der Vorteil einer Demokratie auf dem Papier. Anstatt extern gelenkt, bestimmen die Bürger:innen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Zusammenleben.

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Volksentscheid in Bayern: Thriumph der Nichtraucher

Geringe Wahlbeteiligung bei Schweizer Parlamentswahlen

Mehr Demokratie durch Bürger:innenräte?

dilemmadiskussion

Wie gestalten wir Partizipation? Das sollte eine der Grundfragen bleiben, die in einer Demokratie immer wieder gestellt wird. Der Unterschied zwischen einer direkten Demokratie mit einer parlamentarischen Führung, wie in der Schweiz, und einem reinen Parlamentarismus, wie in Deutschland, ist sehr groß. Bei uns gibt es Volksabstimmungen eher nur als Jahrhundert-Happening in den Ländern – von bundesweiter Partizipation brauchen wir gar nicht erst zu sprechen. Höchste Zeit für eine kurze Einführung ins Thema „Bürgerräte“.

Irland ist Vorbild für Bürgerräte

Bürger:innenräte bilden hier eine Mitte. Durch Losverfahren sollen sie die Bevölkerung repräsentieren, und das kann jeden treffen – dich, mich, die da hinten.  Leider können Bürger:innenräte aber keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Aus Sicht der Kritiker:innen ein Glück, aus Sicht der Befürworter:innen ein schlechter Witz. Bisher ist ihre Befugnis auf Empfehlungen beschränkt. Im Falle von Irlands ,citizen assemblies‘ folgte aber z. B. der Empfehlung, die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen, ein Votum der Gesamtbevölkerung, woraufhin die Regierung diese auch implementierte. Die Anteile der Befürworter:innen und Gegner:innen bei der Gesamtbevölkerung waren letztlich ungefähr gleich gelagert wie in der Abstimmung des citizen assembly.

Irlands vorbildlicher Umgang mit ihrem Bürger:innenrat klingt wie eine demokratische Erfolgsstory. Schwierige Themen werden ausgelagert, damit die Bürger:innen selbst entscheiden können. So gelingt trotz einer dominanten Lobby, im Falle Irlands erzkonservative Katholik:innen, ein gesellschaftlicher Durchbruch.

Immer noch keine Selbstverständlichkeit

Trotz alledem haben es Bürger:innenräte schwer. Die Gelbwestenproteste in Frankreich bedeuteten eine Gefahr für Macrons Regierung. Deswegen etablierte auch er so etwas wie Bürger:innenräte. Es brauchte zwei Versuche, bis ein auch auf Losverfahren basierter Rat bei Fragen über das Klima Empfehlungen ausarbeiten konnte. Aber Macron ging letztlich nur auf wenige Empfehlungen des Rates ein. Bedeutet das, dass Bürger:innenräte nur das bewirken, was von der Regierung sowieso gewollt ist?

Die Versuche in Deutschland scheinen bislang rein symbolisch-aktivistisch zu sein. Trotz dem prominenten Schirmherrn Wolfgang Schäuble und einer starken Motivation, haben die bisherigen Info- und Diskursveranstaltungen der Tagespolitik nichts beigetragen. Wir verspielen damit Chancen.

Expertenwissen ist unerlässlich für Bürgerräte

Es ist schwer zu sagen, ob das Format der Bürger:innenräte die demokratische Zukunft bestimmen sollte oder könnte. Ihre Effektivität, zumindest zu manchen Entscheidungen, ist durch Irlands Vorbild bewiesen.       
Wieso trauen sich also die wenigsten liberalen Staaten an dieses Instrument der Partizipation heran? Wie anderswo gab es auch im deutschen Format Vorträge von Spezialist:innen, um die Bürger:innen auf ihre Diskurse vorzubereiten. Müsste dieses Vorgehen nicht ausreichen, um gerechtfertigte Entscheidungen zu treffen? Politiker:innen berufen sich letzten Endes auch ,nur‘ auf Expert:innenwissen für ihre Entscheidungen. Die wenigsten Minister:innen haben vor ihrer Ernennung Fachkenntnisse ihres eigenen Ministeriums. Genau hier haben die Bürger:innenräte noch einen weiteren Vorteil. Anstatt ideologischer Entscheidungen Einzelne:r werden sie durch einen Diskurs von Gleichen getroffen. Dabei wurden alle auf dieselbe Weise informiert. Solch ein Verfahren ist definitiv demokratischer, als Parlamentarismus von oben herab. Das ist eigentlich selbsterklärend.

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Bürgerrat Klima nimmt Arbeit auf

Offizielle Website der Initiator:innen des deutschen Bürger:innenrates:

Weltkarte der „Losdemokratie“