Die Wahrheit ist nicht, was du denkst 2

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Kleine Einführung in gesellschaftliche Kommunikation

Im letzten Newsletter habe ich erzählt, was Wahrheit wissenschaftlich betrachtet ist und was das mit unserem Alltag zu tun hat. Besonders wichtig ist Wahrheit, weil wir uns ohne sie nicht verstehen würden. Wir könnten ohne sie nicht kommunizieren und hätten keine gemeinsame Wissensgrundlage, die wir für wahr halten. Kleine Abweichungen von Grundannahmen sind nicht tragisch. Sie zeigen uns, wie unterschiedlich Menschen sind und in was für einer vielfältigen Welt wir aufwachsen. Die Möglichkeit sich zu einigen besteht trotzdem. Nur so ist, trotz unterschiedlicher Grundannahmen, ein politisches System auf Grundlage von Kompromissen möglich.

Wie kommen wir nun zu Kompromissen in unserem politischen und gesellschaftlichen System? Und was passiert, wenn unsere gemeinsamen Grundannahmen immer weniger werden?

Medien und Gesellschaft

Gesellschaft und politische Systeme sind sehr komplexe Dinge, die ich hier gar nicht bis ins kleinste Detail erklären möchte. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass eine komplexe Gesellschaft nur durch gesellschaftliche bzw. öffentliche Kommunikation zusammenhalten kann. Diese Funktion übernehmen Medien, klassischer Weise der Journalismus.

Medien schaffen es, in der Öffentlichkeit, also auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, einen Austausch zu ermöglichen. Das Ganze funktioniert, indem sie Themen bereitstellen, zeigen, was daran wichtig ist und Reaktionen darauf ermöglichen, wie in einem Gespräch. Das macht Beziehungen sichtbar und repräsentiert eine gemeinsame Welt.

Wenn sich jedoch mehr und mehr Menschen aus dieser gemeinsamen Welt zurückziehen, indem sie zum Beispiel sogenannten Leitmedien keinen Glauben mehr schenken, zerfällt unsere Gesellschaft in einzelne Teile, Fragmente. Dieser Prozess nennt sich die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“. Und den meisten ist auch der Begriff der „Filterblase“, ein abgeschotteter Informationsraum, nicht mehr unbekannt.

Wo führt das alles hin?

Wenn sich die Informationsräume immer weiter voneinander entfernen und sich irgendwann gar nicht mehr überschneiden, wird es gefährlich. Wie ich im letzten Artikel schrieb, ist das (pragmatische) Kriterium dafür, ob eine Aussage als wahr gilt, dass sich alle darüber einig sind. Und wenn jemand etwas anzweifelt, muss man diese Aussage mit anerkannten Argumenten verteidigen können.

Diejenigen, die sich in ihrer Filterblase vom Rest der Gesellschaft abgrenzen, haben keine Möglichkeit mehr, Informationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Solche abgeschotteten Informationsräume leben oft davon, dass einige wenige Wortführer*innen ihre Meinung als unumstößliche Wahrheiten ausgeben. Und vor allem, diese nicht in einem Gespräch verteidigen können bzw. möchten. Eine solche unumstößliche Wahrheit nennt man auch Dogma.

Reptilien, Farbe und Wiedergeburten?!

Das Gefährliche an einer abgeschotteten Informationsblase ist also, dass die dort kursierenden „Wahrheiten“ gar nicht von außen angezweifelt werden. Innerhalb der Blase „gilt“ also das Kriterium für Wahrheit, dass sich alle darüber einig sind, dass die Aussage stimmt. Auf diese Weise könnten die verrücktesten Aussagen innerhalb einer abgeschotteten Gruppe als wahr angenommen werden. „Reptilien beherrschen die Erde“, „Pflanzen sind eigentlich rot, statt grün“, oder auch „Olaf Scholz ist die Wiedergeburt von Cleopatra.“ Solange es keine Gruppe von Wissenschaftler*innen und anderen Expert*innen auf diesen Gebieten gibt, die diese Aussagen in unseren mehrere Jahrtausende anwachsenden Kanon an Wissen einordnen und Unstimmigkeiten aus verschiedenen Richtungen hinterfragen, kann eigentlich nicht gesagt werden, ob diese Aussagen wahr sind.

Aber was ist nun so schlimm daran? Wir könnten ja sagen: „Habt ein schönes Leben mit eurer abgeschotteten Weltsicht.“, und gut ist. Doch leider führen solche abgeschotteten Gruppen erstens zu gefährlichen Handlungen innerhalb der Gruppe (Leute trinken Bleiche, weil jemand gesagt hat, es hilft gegen Corona), zweitens zu Extremismus und Gewalt gegenüber der „Außenwelt“ (Reichsbürger oder Terroristen, die die gesellschaftliche Ordnung ablehnen) und nicht zuletzt zur Destabilisierung der Gesellschaft an sich, wenn es immer mehr dieser abgeschotteten Fragmente, also Informationsblasen gibt.

Zu guter Letzt – Es sind nicht alle gleich

Die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ ist nur ein Faktor von vielen, der unsere gesellschaftliche Kommunikation bzw. Entwicklung negativ beeinflusst. Deshalb ist es mir sehr wichtig zu erwähnen, dass ich mit diesem und dem vorhergehenden Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Ich hoffe einfach, ich konnte einige Menschen neugierig und vielleicht auch etwas skeptisch machen, ihrem inneren und anderen Kritikern gegenüber. Ich denke, es ist wichtig sich zu fragen, was einem eine „alternative“ Wahrheit oder Sichtweise bringt.

Wenn man sich von gesellschaftlichen Autoritäten – den Medien, der Regierung, der Wissenschaft, der Medizin – betrogen fühlt, darf man nicht vergessen, dass diese gesellschaftlichen Systeme keine geschlossenen Einheiten sind. Es gibt korrupte Politiker. Aber es gibt auch solche, die ihren Job verantwortungsbewusst ausführen und alles in ihrer Macht Mögliche tun, um unser Land gerecht zu führen. Es gibt Journalisten, die es mit ihrem Kodex nicht so genau nehmen. Aber es gibt auch viele, die sich sogar in Gefahr begeben, nur um die Gesellschaft über Missstände aufzuklären. Es gibt Wissenschaftler und Mediziner, die ihre Grundprinzipien vergessen haben. Doch die meisten handeln nach bestem Wissen und Gewissen und haben jahrelange Ausbildungen absolviert, die sie auch lehrten, sich selbst zu hinterfragen.

Übers Impfen und Nichtimpfen

Impfen oder nicht Impfen?

Anfang des Jahres dachte ich, dass das mit dem Impfen noch ein bisschen länger dauern würde. Man müsse ja erst einmal die ganzen Risikogruppen impfen. Dann kam der Sommer: Plötzlich waren alle Leute, die ich kannte bereits geimpft und Überraschung, sie lebten noch. Das klingt jetzt streberhaft, aber meine einzige Sorge war, wie lange mich die Impfung umhaut, also von der Arbeit abhält. Aber der Tag Ruhe danach hat mir sicherlich nicht nur wegen den leichten Nachwehen gutgetan.

Falsche Studien provozieren Ängste

Andere Leute machen es sich in ihrer Entscheidung etwas schwerer. Dabei spielen aber nicht nur Ängste eine Rolle. Es machen ähnliche Falschinformationen die Runde wie vor der Pandemie. Gerade, wenn es um die Liebsten geht, vor allem Kinder, kann überreagiert werden. Verständnis dafür ist da. Trotzdem kann die Wissenschaft hier beruhigen. Existierende Studien zu gravierenden Folgen sind meist schlecht. So wurden in einer Studie nur 12 Kinder getestet, in der es um die Folgen von Masernimpfungen ging. Auch, wenn man nicht viel von Statistik versteht, so wie ich, dann ist klar, dass das im Vergleich zu der Anzahl von Kindern, die jährlich geimpft werden, nichts ist.

Anders ist der Fall, dass kombinatorische Impfungen angeblich Autismus hervorrufen. Diese Studien waren manipuliert, damit ein Autismustest vermarktet werden kann. Trotzdem halten sich die angeblichen Befunde als Beweise in einschlägigen Milieus.

Interessant ist aber auch das Argument, dass Leute sich nicht impfen lassen, gerade weil die Impfungen so effektiv sind. Die meisten Krankheiten sind schlicht einfach nicht mehr öffentlich wahrnehmbar und so auch nicht ihre Gefährlichkeit. Hoffen wir, dass es uns mit Corona ähnlich ergeht.

Impfgegnerschaft als Ersatzreligion

Im Wesentlichen bleibt das Problem im Jahre 2021 mit den Impfgegnern das gleiche wie davor. Durch die sozialen Medien können immer mehr Falschinformationen verbreitet werden. Wenn das undifferenziert betrachtet wird, was mit politischem Kalkül gepostet wird, dann verstärkt das die Ängste. Zum einen sind solche Weltbilder naive Anker in einer unkontrollierbaren und komplexen Welt. Leider führt das nicht nur zu Distanz zwischen Mitmenschen, sondern auch zu Gewalt, wie vor einem Monat in Berlin. Das liegt wohl auch an der quasireligiösen Erfahrung, durch die sich die Impfgegnerschaft zusätzlich noch auflädt.

Ein richtiger Umgang mit Quellen kann schwierig sein, wenn man aufgrund des Berufes oder der Ausbildung nicht darin geschult ist. Man könnte fast meinen, dass Akedemiker:innen darin besser sein sollten, sind sie aber nicht. Es ist genau andersherum. Je höher der Bildungsgrad ist, umso überzeugter sind die Impfgegner:innen darin, sich richtig informiert zu haben. Ähnliches zeigen auch Untersuchungen zu den Querdenker:innen.

Mittlerweile gibt es aber zum Glück auch viele Portale, die auf Falschinformationen aufmerksam machen. Wer also noch nicht gänzlich in ein solches Weltbild abgetaucht ist, kann mit ein paar anderen Informationen umgestimmt werden. Portale wie „FactsforFriends“ oder „Der goldene Aluhut“ helfen dabei. Seid dabei aber immer respekt- und verständnisvoll.

Was Impfen bewirkt

Das große Ziel von Impfungen ist Herdenimmunität, denn dann ist die Krankheit gesellschaftlich besiegt. Wenn 95% aller Personen geimpft sind, gilt die Krankheit als praktisch beseitigt. Je mehr Personen sich impfen lassen, um so effektiver wird der Impfschutz. Dabei geht es natürlich neben dem eigenen Schutz vor allem um den Schutz von denjenigen, die sich nicht impfen lassen können, zum Beispiel Menschen mit Autoimmunerkrankungen oder mit Allergien gegen die Impfstoffe. Die Nebenwirkungen sind im Vergleich zur Erkrankung und der Gefahr von langanhaltenden Symptomen nach der Genesung nichts.

Impfen ermöglicht ein freieres Leben für alle

Ist es wirklich ein Grund, sich nicht impfen zu lassen, weil man mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit unangenehme Nebenwirkungen bekommen könnte? Mit der Argumentation müssten dann aber alle, die sich nicht impfen lassen wollen, aufhören am Straßenverkehr teilzunehmen, Fleisch zu essen, Alkohol zu trinken, zu rauchen, usw. Auch Argumente, die auf die individuellen Rechte abzielen, können nicht bestehen bleiben. Die Rechte kommen nicht aus dem Nichts und beinhalten auch immer Pflichten. Der Nährboden für diese Wechselbeziehung der Individuen, was zuerst sehr abstrakt wirkt, merken wir doch jeden Tag. Denn wir leben in einem, im Vergleich zum Rest der Welt, friedlichen und sicheren Umfeld. Das nicht nur, weil vor ein paar Jahrzehnten ein paar sinnvolle Gesetze eingerichtet wurden, sondern auch, weil wir im Alltag aufeinander achtgeben, damit jeder nach seinen Möglichkeiten teilhaben kann. Und was ist der Impfschutz denn anderes als das?

Salon – Kaffeehaus – die Öffentlichkeit

Kaffeehaus

Tradition des Kaffeehauses

Überleg mal kurz. Wo hattest du dein letztes richtig gutes Gespräch über Politik oder gesellschaftliche Themen? Ich rate jetzt mal. Es war höchstwahrscheinlich an einem Tisch, über einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein. Zumindest war für dein leibliches Wohl gesorgt, du hast dich wohl gefühlt und genug Zeit und Raum gehabt, um über Kompliziertes oder sogar Unangenehmes zu sprechen.

Auch wenn es nicht gerade das letzte Gespräch war – du wirst so ein gutes Gespräch schon einmal gehabt haben. „Politik beginnt im Kaffeehaus“, titelte einst eine bekannt Kaffeemarke und Stefan Zweig schrieb über das Wiener Kaffeehaus: „Es stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast […] stundenlang sitzen, diskutieren […] kann.“

Wer gemeinsam isst, der vertraut sich

Über einer Tasse Kaffee, einem abendlichen Getränk, einem Stück Kuchen oder sogar dem Abendbrot, lässt sich so viel entspannter über gesellschaftliche Themen reden. Das gemeinsame Essen und Trinken verbindet. Die besten Gespräche hat man zu Tisch. Wir teilen unser Brot und unseren Wein und dann können wir uns gerne darüber streiten, wieviel Einfluss der Wirtschaft auf die Politik zu viel ist.

Doch die Tradition der Orte, an denen das gesellschaftliche Leben geprägt wurde, ist selbstverständlich älter als die Wiener Kaffeehauskultur. Schon die Agora, der zentrale Versammlungs- und Marktplatz im antiken Griechenland, galt als Ort, der das gesellschaftliche Leben besonders prägte. Und viele Jahrhunderte später war es meist der Marktplatz, auf dem man Nachrichten erfuhr und sich am öffentlichen Leben beteiligte.

Ist ein Kaffeehaus nur was für die „Schlauen“?

In der Hochzeit der Aufklärung entstanden dann in vielen Ländern Europas die literarischen Salons. Hier trafen sich nicht nur berühmte Künstler (um mit Goethe, den Gebrüdern Grimm und Beethoven nur ein paar Schwergewichte zu nennen), es wurde sich neben Literatur und Musik auch über Politisches und Gesellschaftliches ausgetauscht. Die Salonkultur reichte noch bis ins 20. Jahrhundert, aber um die Jahrhundertwende entwickelten sich dann die weit öffentlicheren Kaffeehäuser als Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, allen voran die Kultur des Wiener Kaffeehauses.

„Für das gesellschaftliche und theilweise auch für das geschäftliche Leben von Wien sind die Kaffeehäuser von der höchsten Bedeutung“, so der Illustrierte Wegweiser durch Wien und Umgebungen, erschienen um 1900. Auffällig ist wohl, dass sich an all diesen Orten des gesellschaftlichen Lebens vor allem Intellektuelle trafen, Künstler, Schriftsteller und Musiker. Sind es nur die „Gebildeten“, die sich für die Einmischung und den Austausch über das öffentliche Leben interessieren? Ich glaube nicht. Damals haben die traditionellen Orte des gesellschaftlich, öffentlichen Lebens die gesellschaftliche Realität, aber auch deren Wandel abgebildet.

Vor 200 Jahren hatten Frauen kaum Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzuhaben, oder sich an Gesprächen über gesellschaftlichen Themen zu beteiligen. Mit den Salons änderte sich das ein wenig und ebnete so den Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts nicht unwesentlich den Weg. Und im Kaffeehaus der letzten Jahrhundertwende entwickelten sich liberale Gedanken, die danach mehr und mehr Einfluss auf die Gestaltung der Demokratien von heute nahmen.

Und was hält die Zukunft bereit?

Heute sind die Social-Media-Kanäle die dominanten Räume der Öffentlichkeit. Diese Entwicklung hat uns viel gebracht, doch für mich persönlich überwiegt momentan der negative Einfluss auf die Stimmung der Gesellschaft. Was können wir schaffen, wenn wir eine neue Kultur von Begegnungsort etablieren? Wofür werden die „Orte der Öffentlichkeit“ bekannt sein, wenn man in 100 Jahren auf sie zurückblickt? Wir hoffen, dass wir zu einem neuen Selbst- und Politikverständnis beitragen, das hilft, unsere Demokratie wieder stabiler und authentischer zu machen. Wie ich schon zuvor einmal schrieb, es kann nie allen recht gemacht werden, aber es ist möglich, die Bedürfnisse der meisten Menschen besser umzusetzen. Auf eine neue Kultur des Tischgesprächs – auf die Öffentlichkeit.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter wird es politisch. Es geht um „fake news“ und das Für und Wider des Impfens.

Volksabstimmung = eindeutiger Volkswille? Direkte Demokratie 3

Reichstag

Eines der Hauptargumente für eine Wende zur direkten Demokratie ist, dass dadurch der Volkswille besser ausgedrückt wird. Jede wahlberechtigte Person könnte so ganz genau dafür ihre Stimme abgeben, was ihr als unterstützungswert gilt. Anstatt darauf zu hoffen, dass die Stellvertreter:innen richtige Entscheidung treffen, trifft man sie selbst.

„Wählen ist wie Einkaufen.“

Das Gremium der Stellvertreter:innen ist das Parlament. Dort kommen sie ihrer Pflicht nach: den Wähler:innenwillen ausdrücken. Dafür müssen sie mit bestimmten Positionen werben, so wie Marken für ihre Produkte werben. Heutzutage geht es beim Einkaufen, wie auch bei der Politik, um Emotionen.

Eine direkte Demokratie könnte Abhilfe schaffen. Nicht mehr muss das bessere Wahlkampfteam gewinnen, noch muss man sich Sorgen machen, dass die beworbenen Inhalte keine Umsetzung finden.

Im letzten Monat habe ich Argumente für und gegen die politische Aktivierung der Bürger:innen gegeben, die aus einer Wende zur direkten Demokratie folgt. Heute soll es darum gehen, ob die direkte Demokratie den Volkswillen wirklich besser repräsentieren kann.  

„Der Volkswille wird direkt erhoben.“

Ein ganz klares Argument dafür ist, dass man Entscheidungen selbst treffen kann. Der Volkswille wird direkt erhoben. Es gibt keine Vermittlungsposition. Das fördert würde die Transparenz fördern, da nicht irgendjemand Gesetze nur nach seinen Interessen im Hinterzimmer aushandelt. Rein ideologische Entscheidungen und der Einfluss von Drittinteressen hätten es schwerer. Die Informationen zu Abstimmungen sollten ein unabhängiges Gremium bestimmen und einfach und offen abrufbar sein. Eine solche Regelung unterstützt nicht nur die Transparenz, sondern auch die Akzeptanz politischer Entscheidungen. Hierbei darf man nur nicht die Fallen der Schweiz mitnehmen.

„Negativ für die direkte, negativ für die repräsentative Demokratie?“

Es bleiben Probleme. Leute könnten das Informationsangebot nicht annehmen oder Dritte könnten weiterhin mit hohem finanziellen Aufwand Einfluss gewinnen. Und all das könnte noch weit negativere Folgen haben: Durch schnelle Abstimmungen zu antidemokratischen Gesetzen könnten Grundrechte, Bevölkerungsgruppen und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Gefahr gebracht werden.

Wieso das eine Gefahr ausschließlich für die direkte Demokratie sei, bleibt ungewiss. Bereits jetzt könnten über legale Wege Parteien an die Macht kommen, von denen eine ähnliche Gefahr ausgeht. Hier kommt es letztlich darauf an, wie wehrfähig die Verfassung und die Zivilbevölkerung ist, wenn Mitbürger:innen Schaden droht.

„Was die direkte Demokratie bringt, zeigt nur ein Experiment.“

Es ist eindeutig: Der Volkswille wird genauer repräsentiert. In wie weit das aber eine bessere Politik bedeutet, lässt sich in der Theorie nicht sagen. Alle Gegenargumente treffen auch auf die repräsentative Demokratie zu. Letztlich muss ein Experiment zeigen, ob die direkte Demokratie oder eine starke Hybridform aus direkter und repräsentativer Demokratie besser ist.

Gemeinschaft durch Partizipation? Direkte Demokratie 2

Die Mehrheit für mehr Partizipation

70 Prozent aller Bürger:innen sind davon überzeugt, dass die repräsentative Demokratie durch weitere Formen der Beteiligung ergänzt werden soll. So lautet das Ergebnis einer Umfrage, die nach dem ersten Bürgerrat zum Thema Demokratie (mit diesen erarbeiteten Empfehlungen) im September 2019 durchgeführt wurde. Auch 2021 sieht es nicht besser aus: Nur vier Prozent geben in dieser Studie von Anfang Juni an, dass sie sehr zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung sind. Die Mehrheit ist unzufrieden. Die Mehrheit will mehr Partizipation. Sollten dies nicht Zeichen des Wechsels sein?

Das bedeutet nicht, dass ein Regierungswechsel alles ändern würde. Die politische Struktur selbst könnte das Problem sein. Deswegen ist es relevant über neue Formen der Partizipation zu sprechen.

Letzten Monat haben wir das Konzept der direkten Demokratie vorgestellt. Diesmal werden Gründe Für und Wider vorgestellt, so wie sie vom Bürgerrat Demokratie ausgearbeitet wurden.

Allgemein gibt es zwei Hauptargumente für Mechanismen der direkten Demokratie: 1. Aktivierung der Bürger:innen als politische Akteur:innen und 2. eine bessere Repräsentation des politischen Handelns. Die Aktivierung der Bürger:innen für politische Prozesse bringt einige Erwartungen mit. Die Diskussion, die vor einer Volksabstimmung stattfindet, soll nicht nur eine starke Einbindung der Einzelnen in die politischen Entscheidungen garantieren, sondern auch gemeinschaftsbildend wirken. Dass trotzdem Fronten verbleiben oder einige Abstimmungen kontroverser sind als andere, bleibt dabei natürlich bestehen. Wenn das Infomaterial zu den Abstimmungen jedoch zuvor von Bürger:innenräten erarbeitet wurde und der Einfluss Dritter (zum Beispiel irgendwelcher Unternehmen) begrenzt bleibt, dann kann der Diskurs unter möglichst gleichen Voraussetzungen versöhnlich bleiben. Die Volksentscheide, ob sie nun von oben oder von unten kommen, sind dann ein Projekt der Bürger:innen, da sie selbst die Struktur tragen, anstatt das einzelne Interessensgruppen oder politische Parteien diese beeinflussen können.

Es gibt Gegenargumente:

1. Gerade manche Themen könnten einen hohen Verständnisaufwand fordern

2. Eine bürger:innennahe Struktur wird viel kosten

3. Der Diskurs könnte die Gesellschaft in ein Pro- und ein Kontralager spalten

4. Die Abstimmungen könnten zu Ermüdung führen.

Nur mit Bildung und Information funktioniert Direkte Demokratie

Diese Sorgen sind wichtig, können aber auch entkräftet werden. Zum Beispiel wird die gesellschaftliche Spaltung nicht ganz so gravierend sein, wenn alle dasselbe Wissen über die Gründe beider Positionen haben (durch gemeinsames Infomaterial) und man sich im Gespräch respektvoll begegnet. Ebenso müssen alle Menschen mitmachen können. Das muss die Infrastruktur leisten können. Nur die Kosten werden hoch bleiben. Wie viel sind uns ein gesellschaftlicher Frieden und eine starke Demokratie wert? Wenn man Millionenbeträge in die Entwicklung neuartiger Waffensysteme investieren kann, dann sollte der Aufbau und Erhalt einer solchen Infrastruktur ebenso möglich sein.

Natürlich verbleiben Probleme. Vielleicht muss man in einer sich wandelnden Welt einfach mal versuchen neue Formen der Problemlösung anzugehen. Ich weiß nicht, was sich der erste Mensch gedacht hat, der sich ein Häuschen baute, der erste, der Theater spielte, der erste, der Feuer machte. Aber vielleicht war es ein ähnlicher Antrieb.

Nächsten Monat geht es darum, wie direkte Demokratie eine bessere Repräsentation der Bürger:innen schafft. Dafür kläre ich zuerst, wie das politische System Deutschlands derzeit repräsentiert. Bis dann!

Unsere Motivation für die Öffentlichkeit 1

Wahlzettel - die Öffentlichkeit

Ein Problem, das wir lösen möchten

Am 25. März 2021 kippte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten Berliner Mietendeckel in Folge einer Normenkontrollklage. Tausende Bürger:innen müssen jetzt Mietzinsen nachzahlen, von Geld, das sie nicht haben. Ein vermeidbares Chaos und wohl die Folge inkonsequent umgesetzter Wohnungspolitik des Berliner Senats. Der Stadt Brandenburg an der Havel ist in den letzten 10 Jahren ein Schaden von etwa 2,5 Millionen Euro für Strafzinsen entstanden, weil sie Mittel für die Stadtplanung nicht fristgerecht eingesetzt hat. Obwohl die Mehrheit der Bürger:innen von Brandenburg sich zum Beispiel für eine Verkehrsberuhigung der Altstadt einsetzt, werden schon beschlossene Maßnahmen nicht umgesetzt. Bezieht man die Öffentlichkeit von Beginn an in kritische politische Entscheidungsprozesse ein, entstehen seltener unbeliebte Entscheidungen.

Diese Beispiele sind nur zwei von unzähligen Fällen, in welchen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik grob an den Interessen der Bürger:innen, vorbei regiert haben. Die Gründe für Politikversagen sind das Lieblingsthema etablierter Talkrunden und privater Tischgespräche. Abgesehen von diesen konkreten Beispielen, ist die Liste unpopulärer Entscheidungen nicht enden wollend: von inkonsequenter und unregulierter Migrationspolitik bis hin zum verleugnenden Umgang mit dem Klimawandel … wenn ich in meine Suchmaschine „Politik“ eintippe, ist die erste Autovervollständigung „Politikversagen“.

So ist das nun mal – so war das schon immer

Es gibt Menschen, die meinen, so sei Politik nun einmal. Das lässt sich nicht lösen. Es wird immer Menschen geben, die unzufrieden sind. Und polarisierende Entscheidungen gab es schon immer. Ja, das stimmt. Es ist nicht möglich, es allen recht zu machen. Aber es gibt definitiv die Möglichkeit, Politik so zu gestalten, dass nicht die überwiegende Zahl der Menschen mit Zukunftsängsten am Existenzminimum lebt. Und dass etwas „schon immer so“ gemacht wurde, ist kein Argument dafür, es weiterhin so zu machen, sondern höchstens ein faules Beispiel für einen sogenannten Sein-Sollen-Fehlschluss.*

Ein wesentlicher Faktor, warum sich in der „professionellen“ Politik schon so lange nichts mehr geändert hat, ist, dass zu wenige Bürger:innen das „Handwerkszeug“ haben, ihre Vertreter:innen zur Verantwortung zu ziehen. Stellt euch vor, schlecht gemachte Politik hätte tatsächliche Konsequenzen. Alle bekämen es mit, wenn jemand seine Wahlversprechen nicht einhält. Und dann würde er oder sie nicht wiedergewählt oder sogar frühzeitig durch ein Misstrauensvotum seines bzw. ihres Amtes enthoben. Stellt euch vor, mehr und mehr Menschen würden sich der Mittel der Einflussnahme auf Politik bedienen. Und zwar nicht nur, indem sie alle paar Jahre ein Kreuzchen machen. Durch die rege Beteiligung an Bürger:innenbegehren, Planfeststellungsverfahren oder kommunalen Interessenvertretungen ist schon viel Gutes entstanden.

Ihr ewigen Nörgler:innen

Ich wette, manche denken jetzt: „Das ist doch nichts Neues“, „Die Leute wollen sich nicht beteiligen“ und „Das funktioniert doch eh nicht!“ Darauf antworte ich: „Ja, stimmt“, „Nein, da bin ich anderer Meinung“ und „Woher wollen wir das wissen, bevor wir‘s ausprobiert haben?“           
Menschen beteiligen sich nicht, weil die Möglichkeiten politisch mitzumachen in Deutschland bürokratisch und unübersichtlich sind. Darüber hinaus wird die Beteiligung an Politik meist nicht gerade mit Spaß in Verbindung gebracht. Politik ist anstrengend, kompliziert, langweilig oder macht schlechte Laune. So die landläufige Meinung in der Öffentlichkeit. Aber muss das so sein?

Was wäre wenn …

Was wäre zum Beispiel, wenn es um die Ecke ein nettes Café gibt, in dem der Kuchen super schmeckt und man sich unkompliziert und kostenlos zu politischer Beteiligung beraten lassen kann? Kein kahles Politbüro oder eine farblose Behörde, sondern ein gemütliches „Wohnzimmer“. Es läuft Musik, ihr könnt euch mit einem Tee wärmen oder einem Bier zuprosten und daneben etwas über das Grundgesetz oder Beteiligungsverfahren lernen. Unser Projekt, die Öffentlichkeit, ist ein Ort, der das alles möglich macht, und noch viel mehr.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter gibt es Teil 2 unserer Motivation für die Öffentlichkeit, mit Schwerpunkt auf den besagten Ort, das Demokratiecafé.

* Mini-Exkurs Philosophie: Ein Sein-Sollen-Fehlschluss (siehe auch Humes Gesetz) liegt vor, wenn jemand aus einer reinen Feststellung, z. B. „Eheschließungen fanden immer zwischen einem Mann und einer Frau statt.“, einen Soll-Satz ableitet, z. B. „Eheschließungen dürfen nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden.“

Ein Modell der Zukunft? Direkte Demokratie 1

Wählen an der Urne

Von der Basis in die Gesetzgebung

Die Demokratie in Deutschland kennt eine Bürger:innenpflicht: Wählen. Wählen ist wie ein Gang in den Supermarkt. Rein theoretisch kauft man sich, was man will. Praktisch kann Werbung ausschlaggebender sein, ganz so wie im Supermarkt. Die Macht der Bürger:innen liegt also in der Bestätigung oder dem Wechsel der obersten Verwalter:innen im Lande. Der Spielraum als Nichtpolitiker:in ist sehr gering. Wenn einem das Angebot nicht schmeckt, gibt es keine Alternative.
Eine andere Gruppe von Demokratieformen ist offener. Häufig geht sie Hand in Hand mit der repräsentativen (oder auch indirekten) Demokratie: die direkte Demokratie.

Sie umschließt all diejenigen demokratischen Praktiken, bei denen nicht das Parlament, sondern die Bürger:innen selber über eine Regelung entscheiden. Mal passiert das von oben, von der Regierung oder auch von unten. Dafür braucht es meist eine Bürger:inneninitative. Solche Abstimmungen kennen wir auf der Länderebene. Bekannt ist der Fall in Bayern über das Nichtraucherschutzgesetz. In der deutschen Öffentlichkeit gilt die Schweiz als Musterland für direkte Demokratie. Wir schauen jetzt genauer hin.

Direkte Demokratie von Anfang an

Im politischen System der Schweiz vereinen sich parlamentarische und direktdemokratische Mechanismen. Das liegt an der Geschichte des Landes. Die Bauern organisierten sich schon früh in Genossenschaften (die Älteste gibt es seit 900 Jahren!). Das Wahlprinzip bei Entscheidungen ist traditionell eine Person eine Stimme (bzw. lange Zeit ein Mann, eine Stimme). Als sich dann die Kantone als Bünde der Genossenschaften herausbildeten, wollte man das Erfolgsrezept des Zusammenlebens nicht missen. Dass es die direkte Demokratie auf der Bundesebene gibt, erscheint notwendig.

Es gibt nur ein Problem. Die Wahlbeteiligung der Schweiz sinkt seit Jahrzehnten, sowohl bei den Volksabstimmungen, wie auch bei den Wahlen. Angegebene Gründe sind hier wenig Vertrauen ins System, Faulheit, Unwissenheit und zu wenig Macht in den Bürger:innenhänden.

Direkte Demokratie ist kein Allheilmittel

Die Hoffnungen deutscher Vertreter:innen von einer stärker basisdemokratischen Ordnung sind hier nicht gespiegelt. Anstatt einer engagierten Gesamtgesellschaft zeigt sich ein Bild von erstarkender Politikverdrossenheit. Dies liege auch daran, dass aufgrund des besonderen Systems die regierenden Parteien bereits vor der Wahl feststehen.

Eine direkte Demokratie kann also an den gleichen Problemen kränkeln wie andere Formen der Demokratie. Damit Menschen motiviert sind zu partizipieren, braucht es einige universale Voraussetzungen. Die Bürger:innen müssen ihre eigene Wichtigkeit fürs System spüren. Sie müssen den Unterschied machen können, wie ein Land geführt wird. Gleichzeitig braucht es genug Bildungsvoraussetzungen und eine Struktur, die die Partizipation so einfach wie möglich macht. Es wird immer Verdrossene geben, aber auch um deren Motivation sollte man kämpfen. Schließlich ist genau das der Vorteil einer Demokratie auf dem Papier. Anstatt extern gelenkt, bestimmen die Bürger:innen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Zusammenleben.

Weiterlesen:

Volksentscheid in Bayern: Thriumph der Nichtraucher

Geringe Wahlbeteiligung bei Schweizer Parlamentswahlen

Mehr Demokratie durch Bürger:innenräte?

dilemmadiskussion

Wie gestalten wir Partizipation? Das sollte eine der Grundfragen bleiben, die in einer Demokratie immer wieder gestellt wird. Der Unterschied zwischen einer direkten Demokratie mit einer parlamentarischen Führung, wie in der Schweiz, und einem reinen Parlamentarismus, wie in Deutschland, ist sehr groß. Bei uns gibt es Volksabstimmungen eher nur als Jahrhundert-Happening in den Ländern – von bundesweiter Partizipation brauchen wir gar nicht erst zu sprechen. Höchste Zeit für eine kurze Einführung ins Thema „Bürgerräte“.

Irland ist Vorbild für Bürgerräte

Bürger:innenräte bilden hier eine Mitte. Durch Losverfahren sollen sie die Bevölkerung repräsentieren, und das kann jeden treffen – dich, mich, die da hinten.  Leider können Bürger:innenräte aber keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Aus Sicht der Kritiker:innen ein Glück, aus Sicht der Befürworter:innen ein schlechter Witz. Bisher ist ihre Befugnis auf Empfehlungen beschränkt. Im Falle von Irlands ,citizen assemblies‘ folgte aber z. B. der Empfehlung, die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen, ein Votum der Gesamtbevölkerung, woraufhin die Regierung diese auch implementierte. Die Anteile der Befürworter:innen und Gegner:innen bei der Gesamtbevölkerung waren letztlich ungefähr gleich gelagert wie in der Abstimmung des citizen assembly.

Irlands vorbildlicher Umgang mit ihrem Bürger:innenrat klingt wie eine demokratische Erfolgsstory. Schwierige Themen werden ausgelagert, damit die Bürger:innen selbst entscheiden können. So gelingt trotz einer dominanten Lobby, im Falle Irlands erzkonservative Katholik:innen, ein gesellschaftlicher Durchbruch.

Immer noch keine Selbstverständlichkeit

Trotz alledem haben es Bürger:innenräte schwer. Die Gelbwestenproteste in Frankreich bedeuteten eine Gefahr für Macrons Regierung. Deswegen etablierte auch er so etwas wie Bürger:innenräte. Es brauchte zwei Versuche, bis ein auch auf Losverfahren basierter Rat bei Fragen über das Klima Empfehlungen ausarbeiten konnte. Aber Macron ging letztlich nur auf wenige Empfehlungen des Rates ein. Bedeutet das, dass Bürger:innenräte nur das bewirken, was von der Regierung sowieso gewollt ist?

Die Versuche in Deutschland scheinen bislang rein symbolisch-aktivistisch zu sein. Trotz dem prominenten Schirmherrn Wolfgang Schäuble und einer starken Motivation, haben die bisherigen Info- und Diskursveranstaltungen der Tagespolitik nichts beigetragen. Wir verspielen damit Chancen.

Expertenwissen ist unerlässlich für Bürgerräte

Es ist schwer zu sagen, ob das Format der Bürger:innenräte die demokratische Zukunft bestimmen sollte oder könnte. Ihre Effektivität, zumindest zu manchen Entscheidungen, ist durch Irlands Vorbild bewiesen.       
Wieso trauen sich also die wenigsten liberalen Staaten an dieses Instrument der Partizipation heran? Wie anderswo gab es auch im deutschen Format Vorträge von Spezialist:innen, um die Bürger:innen auf ihre Diskurse vorzubereiten. Müsste dieses Vorgehen nicht ausreichen, um gerechtfertigte Entscheidungen zu treffen? Politiker:innen berufen sich letzten Endes auch ,nur‘ auf Expert:innenwissen für ihre Entscheidungen. Die wenigsten Minister:innen haben vor ihrer Ernennung Fachkenntnisse ihres eigenen Ministeriums. Genau hier haben die Bürger:innenräte noch einen weiteren Vorteil. Anstatt ideologischer Entscheidungen Einzelne:r werden sie durch einen Diskurs von Gleichen getroffen. Dabei wurden alle auf dieselbe Weise informiert. Solch ein Verfahren ist definitiv demokratischer, als Parlamentarismus von oben herab. Das ist eigentlich selbsterklärend.

Weiterlesen:

Bürgerrat Klima nimmt Arbeit auf

Offizielle Website der Initiator:innen des deutschen Bürger:innenrates:

Weltkarte der „Losdemokratie“

Der Weg in die Öffentlichkeit

Menschenmenge

Der Weg in die Öffentlichkeit

Ein kleiner Einblick in die Gründung der Öffentlichkeit

Ich klicke mich durch die verschiedenen Bewertungsfelder, nachdem wir die Rückmeldung zum Businessplan-Wettbewerb Berlin-Brandenburg bekommen haben, und lese: „Es ist einer der besten Businesspläne, die mir nicht nur im BPW, sondern in meiner gesamten langen beruflichen Laufbahn untergekommen ist.“ Mein Herz klopft, ich öffne die zweite Bewertung und lese, „Hätte ich als Juror nicht die Aufgabe den gesamten Businessplan durchzuarbeiten, hätte ich nach der Zusammenfassung nicht weiter gelesen.“

Gründen ist nicht leicht. Das ist ein ,no-brainer‘, wie es im Jargon heißt – eine evidente Sache, etwas, über das man nicht nachzudenken braucht. Klar, gründen ist nicht leicht, aber ich hätte zu Beginn nie gedacht, wie verrückt diese Reise sein kann. Ich hätte nie gedacht, in was ich mich begebe, bevor ich nur eine Unterschrift gesetzt, den ersten Euro investiert habe.

die Öffentlichkeit soll mehr sein

Mein Mitgründer Aaron und ich, Charlotte, wollen ein Demokratiecafé eröffnen; ein richtiges Café, in dem ihr Kaffee, Kuchen und am Abend mal eine Weinschorle bekommt, in dem es aber auch um Politik geht. Wir wollen einen sympathischen Ort schaffen, an dem sich Menschen gerne mit Politik beschäftigen. An dem es ihnen leicht gemacht wird, sich zu informieren und vielleicht sogar in Aktion zu treten.

Dabei wollen wir nicht ,nur‘ ein Café mit Programm sein und auch kein Stadtteilcafé, die Öffentlichkeit soll mehr sein. Aaron und ich studieren Philosophie und forschen zu Demokratie und Gesellschaft. Uns ist wichtig, dass das, was wir tun, wissenschaftlich fundiert ist. Deshalb arbeiten wir auch mit einem Forschungsprogramm zusammen, das sich explizit mit demokratischen Orten und sogenannten demokratischen Mikropraktiken beschäftigt. Das Demokratiecafé die Öffentlichkeit wird deshalb ein Modellprojekt. Wir versuchen dort unser Wissen aus der Forschung anzuwenden. Wir wollen beobachten, welche Wirkung wir mit dem, was im Café passiert, erzielen und unser Konzept dann weiterentwickeln.

Gemeinnützigkeit braucht Geld

Wie ich schon angedeutet habe, ist es unser Ziel, dass sich mehr und mehr Menschen gerne mit Politik beschäftigen. Das ist der Zweck des Cafés, und deshalb wird jeder erwirtschaftete Cent diesem Zweck zukommen. Letztlich ist es aber immer noch ein Café, das Geld einnehmen muss. Damit das Projekt langfristig funktioniert, vor allem aber zu Beginn, braucht es Investitionen. Und hier treffen zwei unterschiedliche Welten aufeinander – die Welt der Wirtschaft und die Welt des sozial-gesellschaftlichen Engagements und Handelns.

Es gibt immer mehr Institutionen und Unternehmen, die das wirtschaftliche Handeln und das Handeln für den guten Zweck miteinander vereinen. Die Gründer*innenszene besteht aber immernoch aus Vielen, die es komisch finden, wenn ein wirtschaftliches Unternehmen keinen klassischen Profit machen möchte. Wenn der Mehrwert eines Unternehmens zum Beispiel Bildung, Gemeinschaft, Teilhabe usw. ist, dann gehört diese Unternehmung für einige immer noch in einen anderen Sektor als Unternehmen, die Geld verdienen.

Innovation oder Risiko?

Ich denke, das ist ein Grund, warum wir mit unserem Projekt in der Gründer*innenszene so extrem konträre Reaktionen hervorrufen. Da sind auf der einen Seite Menschen, die persönlich von der Idee angetan sind, die unsere Werte teilen und die Art und Weise, wie wir uns gesellschaftlich beteiligen wollen, innovativ finden. Und da sind auf der anderen Seite Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass unser Geschäftsmodell Erfolg bringt, so wie sie Erfolg verstehen.

Der Stand unserer Gründung ist, dass wir nach wie vor an unserem Businessplan feilen. Wir werden von unserer Uni durch Beratung und Vernetzung sehr gut unterstützt. Und wir haben in allen wichtigen Bereichen der Unternehmensgründung ,Eisen im Feuer‘. Die Türen des Demokratiecafés sollen in genau einem Jahr, im April 2022 öffnen. Bis dahin ist noch viel zu tun und vor allem viel zu erzählen.

Bleibt dran – im nächsten Newsletter geht es um unsere Motivation für die Öffentlichkeit.