Die Wahrheit ist nicht, was du denkst 2

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Kleine Einführung in gesellschaftliche Kommunikation

Im letzten Newsletter habe ich erzählt, was Wahrheit wissenschaftlich betrachtet ist und was das mit unserem Alltag zu tun hat. Besonders wichtig ist Wahrheit, weil wir uns ohne sie nicht verstehen würden. Wir könnten ohne sie nicht kommunizieren und hätten keine gemeinsame Wissensgrundlage, die wir für wahr halten. Kleine Abweichungen von Grundannahmen sind nicht tragisch. Sie zeigen uns, wie unterschiedlich Menschen sind und in was für einer vielfältigen Welt wir aufwachsen. Die Möglichkeit sich zu einigen besteht trotzdem. Nur so ist, trotz unterschiedlicher Grundannahmen, ein politisches System auf Grundlage von Kompromissen möglich.

Wie kommen wir nun zu Kompromissen in unserem politischen und gesellschaftlichen System? Und was passiert, wenn unsere gemeinsamen Grundannahmen immer weniger werden?

Medien und Gesellschaft

Gesellschaft und politische Systeme sind sehr komplexe Dinge, die ich hier gar nicht bis ins kleinste Detail erklären möchte. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass eine komplexe Gesellschaft nur durch gesellschaftliche bzw. öffentliche Kommunikation zusammenhalten kann. Diese Funktion übernehmen Medien, klassischer Weise der Journalismus.

Medien schaffen es, in der Öffentlichkeit, also auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, einen Austausch zu ermöglichen. Das Ganze funktioniert, indem sie Themen bereitstellen, zeigen, was daran wichtig ist und Reaktionen darauf ermöglichen, wie in einem Gespräch. Das macht Beziehungen sichtbar und repräsentiert eine gemeinsame Welt.

Wenn sich jedoch mehr und mehr Menschen aus dieser gemeinsamen Welt zurückziehen, indem sie zum Beispiel sogenannten Leitmedien keinen Glauben mehr schenken, zerfällt unsere Gesellschaft in einzelne Teile, Fragmente. Dieser Prozess nennt sich die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“. Und den meisten ist auch der Begriff der „Filterblase“, ein abgeschotteter Informationsraum, nicht mehr unbekannt.

Wo führt das alles hin?

Wenn sich die Informationsräume immer weiter voneinander entfernen und sich irgendwann gar nicht mehr überschneiden, wird es gefährlich. Wie ich im letzten Artikel schrieb, ist das (pragmatische) Kriterium dafür, ob eine Aussage als wahr gilt, dass sich alle darüber einig sind. Und wenn jemand etwas anzweifelt, muss man diese Aussage mit anerkannten Argumenten verteidigen können.

Diejenigen, die sich in ihrer Filterblase vom Rest der Gesellschaft abgrenzen, haben keine Möglichkeit mehr, Informationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Solche abgeschotteten Informationsräume leben oft davon, dass einige wenige Wortführer*innen ihre Meinung als unumstößliche Wahrheiten ausgeben. Und vor allem, diese nicht in einem Gespräch verteidigen können bzw. möchten. Eine solche unumstößliche Wahrheit nennt man auch Dogma.

Reptilien, Farbe und Wiedergeburten?!

Das Gefährliche an einer abgeschotteten Informationsblase ist also, dass die dort kursierenden „Wahrheiten“ gar nicht von außen angezweifelt werden. Innerhalb der Blase „gilt“ also das Kriterium für Wahrheit, dass sich alle darüber einig sind, dass die Aussage stimmt. Auf diese Weise könnten die verrücktesten Aussagen innerhalb einer abgeschotteten Gruppe als wahr angenommen werden. „Reptilien beherrschen die Erde“, „Pflanzen sind eigentlich rot, statt grün“, oder auch „Olaf Scholz ist die Wiedergeburt von Cleopatra.“ Solange es keine Gruppe von Wissenschaftler*innen und anderen Expert*innen auf diesen Gebieten gibt, die diese Aussagen in unseren mehrere Jahrtausende anwachsenden Kanon an Wissen einordnen und Unstimmigkeiten aus verschiedenen Richtungen hinterfragen, kann eigentlich nicht gesagt werden, ob diese Aussagen wahr sind.

Aber was ist nun so schlimm daran? Wir könnten ja sagen: „Habt ein schönes Leben mit eurer abgeschotteten Weltsicht.“, und gut ist. Doch leider führen solche abgeschotteten Gruppen erstens zu gefährlichen Handlungen innerhalb der Gruppe (Leute trinken Bleiche, weil jemand gesagt hat, es hilft gegen Corona), zweitens zu Extremismus und Gewalt gegenüber der „Außenwelt“ (Reichsbürger oder Terroristen, die die gesellschaftliche Ordnung ablehnen) und nicht zuletzt zur Destabilisierung der Gesellschaft an sich, wenn es immer mehr dieser abgeschotteten Fragmente, also Informationsblasen gibt.

Zu guter Letzt – Es sind nicht alle gleich

Die „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ ist nur ein Faktor von vielen, der unsere gesellschaftliche Kommunikation bzw. Entwicklung negativ beeinflusst. Deshalb ist es mir sehr wichtig zu erwähnen, dass ich mit diesem und dem vorhergehenden Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Ich hoffe einfach, ich konnte einige Menschen neugierig und vielleicht auch etwas skeptisch machen, ihrem inneren und anderen Kritikern gegenüber. Ich denke, es ist wichtig sich zu fragen, was einem eine „alternative“ Wahrheit oder Sichtweise bringt.

Wenn man sich von gesellschaftlichen Autoritäten – den Medien, der Regierung, der Wissenschaft, der Medizin – betrogen fühlt, darf man nicht vergessen, dass diese gesellschaftlichen Systeme keine geschlossenen Einheiten sind. Es gibt korrupte Politiker. Aber es gibt auch solche, die ihren Job verantwortungsbewusst ausführen und alles in ihrer Macht Mögliche tun, um unser Land gerecht zu führen. Es gibt Journalisten, die es mit ihrem Kodex nicht so genau nehmen. Aber es gibt auch viele, die sich sogar in Gefahr begeben, nur um die Gesellschaft über Missstände aufzuklären. Es gibt Wissenschaftler und Mediziner, die ihre Grundprinzipien vergessen haben. Doch die meisten handeln nach bestem Wissen und Gewissen und haben jahrelange Ausbildungen absolviert, die sie auch lehrten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Wahrheit ist nicht, was du denkst

Wahrheit statt Transparenz - wenn es so einfach wäre.
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Der Medienwissenschaftler und Philosoph Sigfried J. Schmidt sagte einmal in einem Interview „Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie.“

Diese Aussage muss näher erklärt werden. Stellt euch einmal vor, es gäbe keine Wahrheit. Es gäbe keine Information, die sicher wäre, keine, auf die ihr euch verlassen könntet. Wir könnten uns über nichts sinnvoll unterhalten, weil wir gar nicht wüssten, was unser Gegenüber eigentlich meint. Und wir könnten nicht einmal normal durch die Straßen laufen, ohne Angst, dass uns gleich der Himmel auf den Kopf fällt. Verrückt, oder?

Zum Glück liegen die Dinge anders. Und was Wahrheit in diesem Sinne in unserem Alltag und mit unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu tun hat, darum soll es hier gehen.

Wahrheit in der Wissenschaft, Wahrheit im Alltag

Jede Wissenschaft ist dazu da, wahre Aussagen zu machen. Wahrheit ist ein wichtiger Bestandteil jeder Wissenschaft. Was Wahrheit im Grunde ist, beschäftigt jedoch die Philosophie. Und obwohl diese als eine unserer ältesten Wissenschaften gilt, sind sich ihre Vertreter*innen darüber immer noch nicht recht einig. Gottfried Wilhelm Leibniz hat den Unterschied zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten eingeführt. Danach sind Vernunftwahrheiten solche, welche uns notwendiger Weise einleuchten (das Gegenteil kann nicht gedacht werden): „Ein Kreis ist rund“ oder „1+1=2“. Tatsachenwahrheiten brauchen jedoch den Abgleich durch Erfahrung: „Es regnet gerade“ oder „Steine sind hart“.

Im Alltag spielt es weniger eine Rolle, wie Wahrheit in der Wissenschaft definiert wird. Im alltäglichen Handeln geht es nie um „die Wahrheit“, sondern darum, ob wir etwas für wahr halten oder eben nicht. Wahrheit hat im Alltag einen praktischen Wert. Wenn ich frage „Regnet es gerade?“, möchte ich wissen, ob ich mir einen Regenschirm mitnehmen sollte. Wenn ich frage „Wer hat die Bundestagswahl gewonnen?“, erlaubt mir die Antwort, mich in Unterhaltungen darauf zu berufen und sinnvoll über die gegenwärtigen Ereignisse in der Politik zu sprechen.

Wie ist Wahrheit entstanden?

Wahrheit ist also etwas Praktisches. Evolutionär betrachtet haben immer diejenigen überlebt, die sich besser auf die Aussagen ihrer Artgenoss*innen verlassen konnten. Zu wissen, wie das Wetter ist und welche Beeren giftig sind, hat früher über Leben und Tod entschieden. Die Wahrheit garantiert uns, dass Dinge nicht willkürlich gesagt werden. Sie gibt uns die Möglichkeit, uns auf unsere Umwelt und unsere Mitmenschen zu verlassen. Ohne sie hätten wir uns nicht so weit entwickelt. Das heißt, Wahrheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Entwicklung und unseres Lebens. Dass es heute viel mehr solcher Wahrheiten gibt, macht im Grunde keinen Unterschied, aber es macht es natürlich auch komplizierter und unübersichtlicher.

Was heißt jetzt „Wahrheit gibt es nicht“?

Nun war Leibnitz nicht der Einzige, der etwas Kluges über Wahrheit gesagt hat. Naiv betrachtet, gilt Wahrheit als die Übereinstimmung einer Aussage, mit der Wirklichkeit. Aber was ist die Wirklichkeit? Und wer entscheidet darüber, ob eine Aussage nun wahr ist, also die Übereinstimmung wirklich stimmt? Denn egal welche Betrachtung oder Aussage, sie wird ja immer von einem oder einer einzigen Betrachter*in gemacht. Egal ob es ein religiöses Oberhaupt, ein Patriarch, ein Herrscher, ein Gelehrter oder Tante Erna ist: Was ihre Augen sehen und ihr Gehirn denkt, ist nur jeweils ihre Perspektive. Wer ist der oder die, die alles auf einmal sieht und weiß? Gott?

Für alle, denen eine weltliche Quelle der Wahrheit wichtig ist, gibt es eine andere Lösung. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas hat die sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit beschrieben. Danach ist das Kriterium dafür, ob etwas als wahr gilt, dass sich alle, zumindest unausgesprochen, darüber einig sind. Gerade in den Naturwissenschaften gilt dieser Maßstab spätestens seit der Neuzeit. Forschungsergebnisse müssen für alle experimentell nachprüfbar sein. Und wenn jemand die Wahrheit einer Aussage anzweifelt, muss er oder sie das nachweisen. Denn anders können wir uns auf die Wahrheit einer Aussage nicht einigen. Das passiert ständig. Wissenschaftliche Überzeugungen werden aufgrund von neuen Erkenntnissen angepasst oder überworfen. Wahrheit ist nicht „fest“ oder „ewig“. Wahrheit ist also nicht etwas, das in der Welt existiert und gefunden wird, sondern das Ergebnis einer Einigung. Das heißt, Wahrheit, als die unzweifelhafte Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit, gibt es nicht.

Was hat das mit gesellschaftlichem Zusammenhalt zu tun?

Damit wir uns verstehen, im wortwörtlichen Sinne, aber auch im Sinne von „sich vertragen“, brauchen wir eine Basis an Wahrheiten, über die wir uns einig sind. Wissenschaftler sagen dazu „Common Ground“, was man mit „gemeinsame Grundlage“ übersetzen kann und ein Art Wissensraum meint, den wir teilen. Früher haben fast alle abends Tagesschau gesehen und eine von drei gleichen Zeitungen gelesen. Jeder und jede wusste, was der andere wusste und woher sie es wussten. Heute sind Informationen im Internet so vielfältig und individuell, dass es kaum zwei Menschen gibt, die ihre Informationen von der gleichen Quelle beziehen. Das macht es besonders schwierig, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen. Aber erst dieser „Common Ground“ ermöglicht, dass wir normal miteinander kommunizieren und zusammenleben können.

Was passiert nun, wenn wir immer weniger von diesen gemeinsam geteilten Wahrheiten haben? Logischer Weise wird dann die gemeinsame Basis instabil. Die gesellschaftliche Kommunikation, sich gemeinsam auf Dinge zu einigen, wird schwieriger, da ja nicht einmal die Grundannahmen übereinstimmen. Im Kleinen ist das kein Problem. Anhänger verschiedener Parteien gehen in manchen Dingen von unterschiedlichen Grundannahmen aus, was dazu führt, dass sie andere Lösungen dafür finden, wie wir gut zusammenleben. Im Großen führt das dazu, dass es immer mehr Menschen gibt, die anderen nicht mehr über den Weg trauen und das Konzept von Wahrheit anfangen abzulehnen. Denn es gibt ihnen nicht mehr die erwartete Sicherheit. Und wenn wir uns nicht mehr einig sind, bedroht das unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

 

Im nächsten Newsletter gehe ich darauf ein, wie eine verschwindende „gemeinsame Grundlage“ unsere Politik beeinflusst und warum gesellschaftliche Kommunikation ein unverzichtbarer Teil unserer Gewaltenteilung ist.

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